Rückblick Anerkennung und Hass: Niemand hat 2019 so polarisiert wie Greta

Von Gil Bieler

26.12.2019

Sie war dauernd unterwegs, traf den Papst und ist für das «Time»-Magazin die «Person des Jahres». Kein Zweifel, kaum jemand stand 2019 so sehr im öffentlichen Fokus wie Greta Thunberg – und schürte derart die Emotionen.

Ob man sie nun mag oder nicht, Greta Thunberg bewegt. Nicht nur emotional, sondern auch körperlich – das Mädchen aus Schweden bringt Massen von besorgten Menschen auf die Strasse.

Ohne ihr Vorbild hätte sich wohl auch in der Schweiz kaum eine Klimastreik-Bewegung formiert, die nun Druck auf die Politik ausübt, beim Klimaschutz vorwärts zu machen. Die «grüne Welle» bei den Parlamentswahlen im Oktober dürfte eine direkte Folge davon sein.

Greta Thunberg traf den Papst und Arnold Schwarzenegger, sie hielt aufsehenerregende Reden an Treffen der Reichen und Mächtigen, sie wurde zur Zielscheibe von Hass und Anfeindungen selbst vom mächtigsten Mann der Welt. 

Keine schlechte Bilanz für eine 16-Jährige. Dass ihr nicht noch der Nobelpreis zugesprochen wurde, ist auch schon alles. Dabei ist die Botschaft, die Thunberg verbreitet, weder neu noch radikal: Sie spricht das aus, was seit Längerem bekannt ist.

Dass die Klimaerwärmung auf unserem Planeten auf einen Punkt zusteuert, an dem alles aus dem Ruder zu laufen droht. Steigende Meeresspiegel, Dürren, schmelzende Gletscher in der Schweiz, eine existenzielle Bedrohung für Millionen Menschen weltweit. Man müsse nur endlich mal auf die Wissenschaft hören. 



Die Macht der Jugend entfesselt

Auch wenn diese düsteren Aussichten nicht neu sind, hat es erst Greta Thunberg geschafft, sie auf der Themenagenda zu verankern. Nicht nur durch ihre Taten wie dem «Schulstreik fürs Klima», den sie im August 2018 in Stockholm noch ganz allein begonnen hatte. Nicht nur durch anklagende Worte. Nein, indem sie den Fokus der Debatte verschoben hat: Von den Politikern und Wirtschaftskapitänen hin zu jenen Kindern und Jugendlichen, die mit den Folgen des Klimawandels am meisten zu kämpfen haben werden.

Sie hat etwas entfesselt: «The Power of Youth», schreibt das «Time»-Magazin, die Macht der Jugend.

Greta Thunberg ist zur Stimme jener Generation geworden, die zu jung ist, um durch Wahlen oder Abstimmungen direkt Einfluss auf ihre Zukunft zu nehmen. Stattdessen nimmt sie die Erwachsenen in die Pflicht. Sie möchte, dass jeder und jede in Panik gerate, sagte sie im Januar am WEF in Davos, «als würde euer Haus brennen. Denn das tut es.»

An der UNO-Generalversammlung in New York liess sie im September mit wütenden Worten aufhorchen: Ihr empörtes «How dare you!», «Wie könnt ihr es wagen!», ging um die Welt. Die Politiker hätten immer noch nicht begriffen, wie schlimm es um das Klima stehe, lautet ihr zentraler Vorwurf. Und: «Ihr habt mir meine Kindheit gestohlen!»

Natürlich hat der Teenager das diesjährige Mammutprogramm nicht allein gestemmt. Ein ganzer Tross unterstützt sie, Vater Svante Thunberg begleitete sie auf ihren über viermonatigen Reise. 

Dass Thunberg am Asperger-Syndrom leidet, einer Form des Autismus, sieht das «Time»-Magazin sogar als eine Stärke. «Sie operiert nicht auf demselben emotionalen Spektrum wie viele der Leute, die sie trifft. (…) Man kann ihr nicht schmeicheln oder sie ablenken.» Thunberg sei unbestechlich: «Wo andere von Hoffnung sprechen, wiederholt sie die unanfechtbare Wahrheit.»

Hass und Missgunst

Das will freilich nicht jeder hören. Ueli Maurer, der die Schweiz als Bundespräsident an der UNO-Versammlung in New York vertrat, wünschte sich in der Klimadebatte «weniger Ideologie». US-Präsident Donald Trump giftelte auf Twitter gegen die Schülerin, die das pure Gegenteil von ihm verkörpert. «Entspann dich mal, Greta, entspann dich», riet er ihr jüngst – man darf beim Egozentriker Trump von einem guten Mass an Neid aussgehen, dass nicht er zur «Person des Jahres» gewählt worden ist. 

Welches Ausmass der Hass auf Greta Thunberg annehmen kann, zeigte sich in Rom: Unbekannte hängten dort im August eine Puppe, die dem Mädchen nachempfunden war, an einem Strick von einer Brücke. Geschmackloser geht's nicht. 



Auch im Internet schlägt Greta Thunberg viel Missgunst, mitunter sogar blanker Hass entgegen. Ihr Segeltörn von Grossbritannien in die USA diesen Sommer sei ja gar nicht CO2-sparend, weil die Crew zum Teil auch per Flugzeug reise, wurde da etwa nachgerechnet. Thunberg musste auch erklären, ob sie im Notfall bereit wäre, den Dieselmotor der Jacht anzuwerfen. Was sie natürlich getan hätte.

Viele lauern offenbar nur darauf, der jungen Aktivistin einen noch so kleinen Patzer unter die Nase reiben zu können. «Bluewin»-Autor Philipp Dahm erkennt darin in einer Analyse «den etwas anderen Greta-Effekt».

Bei der Schweizer Klimajugend stösst die Kritik an der Segelfahrt auf kein Verständnis. «Greta gibt mit dieser Aktion auch ein kritisches Statement ab», entgegnet Sprecherin Miriam Rizvi. «Nämlich dass es noch immer keinen ökologischeren Weg gibt, um über lange Distanzen zu reisen.»

Depression im Kindesalter

Kein Wunder, eckt Greta Thunberg an: Sie ist eine Überzeugungstäterin. Als Grund dafür, dass sie sich so hartnäckig ins Thema Klimaschutz verbissen habe, wird häufig ebenfalls das Asperger-Syndrom genannt. Als in ihrer Klasse ein Film über die Folgen des Klimawandels gezeigt wurde, seien zwar alle Kinder nachdenklich gewesen, schreibt das «Time»-Magazin. Die anderen hätten aber schnell wieder zur Normalität zurückgefunden – während Greta in eine Depression verfallen sei.

Sie habe über Monate kaum mehr gesprochen und fast nichts mehr gegessen. Am Ende habe sie wegen Mangelernährung sogar hospitalisiert werden müssen. Mit gerade einmal elf Jahren.



Aus dieser Schockstarre hat sich das Mädchen mittlerweile gelöst – und legt einen aussergewöhnlichen Tatendrang an den Tag: Um ihre Botschaft zu verbreiten, setzte sie die Schule für ein Jahr aus, reiste zweimal auf beschwerlichem Weg über den Atlantik, nahm an Klimademos und Anlässen in zahlreichen Ländern teil, hielt Reden und absolvierte einen regelrechten Medien-Marathon.

Es war ein aussergewöhnliches Jahr. Pünktlich zu den Festtagen ist Greta Thunberg wieder nach Schweden heimgekehrt. Auf Twitter veröffentlichte sie am 17. Dezember ein Foto vom Wiedersehen mit ihren beiden Hunden Moses und Roxy.

Vom Ausgang der UNO-Klimakonferenz in Madrid enttäuscht, reiste sie mit dem Zug über Basel und Deutschland heim. Ein Foto, das sie auf dem Boden sitzend zeigt, wirbelte in Deutschland nochmals viel Staub auf. Die «Person des Jahres 2019» ist halt längst mehr als ein zierlicher Teenager aus Schweden – Greta Thunberg bewegt einfach. 

Galerie: Wie fit sind Sie in Sachen Klimawandel?

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