Schwedens Problem mit den Banden«Wir haben das vielleicht nicht kommen sehen»
Von Steffen Trumpf, dpa/uri
11.8.2021 - 10:18
Schweden ist für viele ein Sehnsuchtsland mit Astrid-Lindgren-Idylle, Ikea-Bällebad und Zimtschnecken. Doch das Land hat ein Problem mit eskalierender Bandenkriminalität.
11.08.2021, 10:18
11.08.2021, 11:33
Von Steffen Trumpf, dpa/uri
Erst wurde ein Polizist erschossen, dann zwei spielende Kinder von Kugeln getroffen, schliesslich fielen in den vergangenen Tagen immer neue Schüsse in Kristianstad, Linköping und anderswo.
Schweden, das gesteht sich das skandinavische Land längst ein, hat ein gehöriges Problem mit Gang-Kriminalität. Das gilt vor allem für die grossen Städte und ihre Vororte, aber auch über Stockholm, Göteborg und Malmö hinaus. Die Polizei sorgt sich besonders um Kinder und Jugendliche, die in kriminelle Kreise hineingezogen werden. «Die Macht der Gangs über die Jungen muss gebrochen werden», fordert die Zeitung «Sydsvenskan».
Wer sind diese Gangs und was wollen sie erreichen? Das hat der Kriminalreporter Lasse Wierup 2020 in einem Buch mit dem Titel «Gangsterparadiset» – das Gangster-Paradies – zu erklären versucht. Darin beleuchtet er, wie sich das als so friedlich geltende Land zum Schauplatz für Bandenkriminalität, Schiessereien und vorsätzlich herbeigeführte Explosionen entwickeln konnte. Laut Wierup gibt es mittlerweile mindestens 350 kriminelle Konstellationen in Schweden, von Rockern über ethnisch zusammenhängende Banden bis hin zu lokal aktiven Netzwerken, die allesamt unter anderem um Einfluss auf dem Drogenmarkt ringen. Das sind mehr als dreimal so viele wie 2010.
«Wir haben das vielleicht nicht kommen sehen»
Gleich zu Beginn zitiert der Reporter der Zeitung «Dagens Nyheter» eine Aussage von Ministerpräsident Stefan Löfven. «Wir haben das vielleicht nicht kommen sehen», räumte der Ende 2019 öffentlich ein. Dieser Satz klang lange nach, zeigte er nach Ansicht der Opposition und vieler Medien doch eine gewisse Hilflosigkeit der Regierung im Umgang mit Kriminellen.
Was vor und seit dieser Aussage in Schweden passierte, klingt nicht nach Bullerbü, sondern eher nach Bronx. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu Explosionen, oft in Eingangsbereichen von Mehrfamilienhäusern, manchmal vor öffentlichen Gebäuden. Verletzt wird dabei nur selten jemand, dafür aber umso mehr Schrecken gesät.
Seit einiger Zeit sind die Detonationen seltener geworden – was nicht bedeutet, dass es friedlicher geworden wäre auf Schwedens Strassen. Im Gegenteil: Angesichts unzähliger Konflikte zwischen den Gangs kam es zwischen Januar und Juli zu rund 180 Schiessereien – durchschnittlich wurden also fast jeden Tag irgendwo in Schweden Kugeln abgefeuert. Das Niveau der beiden Vorjahreszeiträume war ähnlich hoch.
25 Tote und 53 Verletzte im ersten Halbjahr 2021
Das hat ernsthafte Folgen: 25 Tote und 53 Verletzte stehen bei den Taten in den ersten sieben Monaten 2021 zu Buche. Vor anderthalb Monaten wurde ein 33 Jahre alter Polizist in Göteborg auf offener Strasse erschossen, als er sich nachts im Problemviertel Biskopsgården im Gespräch mit mehreren Personen befand.
Es wird davon ausgegangen, dass der Beamte nicht gezielt ins Visier genommen wurde. Gleiches gilt für zwei Kinder, die Mitte Juli im Stockholmer Vorort Huddinge von Schüssen verletzt wurden. Es war der nächste Fall, bei dem Kinder zwischen die Gang-Fronten gerieten: Ein nächtlicher Schuss nahe einer Tankstelle in Botkyrka bei Stockholm hatte im August 2020 ein zwölfjähriges Mädchen getötet. Schweden war schockiert.
«Wir haben einen Trend beobachtet, dass es üblicher geworden ist, dass Aussenstehende von dieser Art von Gewalt betroffen sind», stellte der Kriminologe Manne Gerell jüngst im Rundfunksender SVT fest. Zuvor waren in der Stadt Kristianstad zwei jüngere Männer und eine Frau zwischen 60 und 70 angeschossen und damit schwer verletzt worden.
Teenager und junge Männer aus Problembezirken
Die Schützen sind meist junge Männer und immer häufiger Teenager. «Der durchschnittliche Täter ist etwa 20 Jahre alt und wohnt in einem sogenannten gefährdeten Gebiet», sagt Kriminalreporter Wierup der Deutschen Presse-Agentur – im Deutschen würde man diese «utsatt område» wohl am ehesten als Problembezirk bezeichnen. «Der neue Trend ist jedoch, dass Minderjährige eine immer grössere Rolle spielen.» Ein Grund dafür: Der Polizei ist es durch die Entschlüsselung der App EncroChat gelungen, ältere Kriminelle zu fassen.
Im Fall des getöteten Polizisten wurde ein 17-Jähriger festgenommen. Auch nach der Tat in Kristianstad fiel der Verdacht zunächst auf drei Minderjährige, die später aber freigelassen wurden. Bei Schüssen wenige Tage später in Linköping starb ein Jugendlicher, nachdem dort erst zweieinhalb Monate vorher ein 20-Jähriger erschossen worden war.
Kinder und Jugendliche werden von den Gangs auch beim Verstecken und beim Transport von Drogen und Schusswaffen ausgenutzt, wie Informationen aus den entschlüsselten Chats zeigten. «Ich bin tatsächlich ziemlich besorgt um unsere Zukunft», sagte der örtliche Polizeichef in Sollentuna im Norden Stockholms, Christoffer Bohman, im SVT.
Der Preis für ein Gangster-Leben ist zu niedrig
Was macht Schweden falsch? Eine der wichtigsten Erklärungen für die eskalierende Gang-Gewalt ist nach Ansicht von Wierup die geringe Aufklärungsquote. «Die kurze Antwort ist, dass der Preis, ein Gangster-Leben in Schweden zu führen, oft niedrig ist», sagt er. «Viele Junge, nicht zuletzt die, die aus anderen Ländern eingewandert sind, entdecken, dass man viele Straftaten begehen kann, ohne zu einer empfindlichen Strafe verurteilt zu werden.»
Die schwedische Gesetzgebung stamme in der Hinsicht aus einer anderen Zeit, sagt Wierup. Im Reichstag in Stockholm habe man letztlich eingesehen, dass man etwas tun müsse, und mehrere verschärfte Gesetze auf den Weg gebracht. Löfvens kritisierte Regierung legte Mitte Juni einen 34-Punkte-Plan vor, um die Gangs in den Griff zu bekommen. «In Schweden sollen alle sicher sein, egal wo man wohnt», heisst es darin. Das Problem für Kriminalreporter Wierup: Die kriminellen Netzwerke haben sich in den verlorenen Jahren längst etabliert – diese zu «brechen», wie es Löfven häufig versprochen habe, sei deshalb keine leichte Aufgabe für die unterbesetzte Polizei.
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