Bildungsforscherin «Alle sollten die Klasse bestehen – Wiederholungen wären fatal»

Von Julia Käser

30.3.2020

Lernprotokolle statt Prüfungen und wenn möglich längerfristige Projekte statt Lektionen-Denken: Das empfiehlt die Bildungsforscherin Katharina Maag.
Lernprotokolle statt Prüfungen und wenn möglich längerfristige Projekte statt Lektionen-Denken: Das empfiehlt die Bildungsforscherin Katharina Maag.
Bild: Keystone

Seit zwei Wochen sind die Schulen wegen des Coronavirus geschlossen – eine grosse Herausforderung für alle. Laut Bildungsforscherin Katharina Maag darf aber keine schulische Laufbahn unter der Situation leiden. 

Frau Maag, ein kontroverses Thema gleich zu Beginn: Sollen sämtliche Schülerinnen und Schüler aufgrund der Corona-Krise das Schuljahr repetieren?

Der laut gewordene Ruf nach Klassenwiederholungen ist meiner Ansicht nach fatal. Die gegenwärtige Situation ist für alle derart herausfordernd, dass keine schulische Laufbahn darunter leiden sollte. Hier müsste man fünf gerade sein lassen. Das heisst: Alle sollten das Schuljahr bestehen. Komplizierter gestaltet sich das Ganze bei Abschlussprüfungen.

Es ist noch unklar, ob und in welcher Form die Maturitätsprüfungen in diesem Jahr stattfinden …

Die Frage, welches Vorgehen am sinnvollsten ist, kann ich auf die Schnelle nicht beantworten. Es braucht länger als zwei Wochen, um realisierbare Lösungen zu finden. Ein Ansatz ist die Tatsache, dass die Vornoten in der Regel mit den Ergebnissen der Maturaprüfung korrelieren. Heisst: Wer genügende Vornoten hat, besteht auch die Matura. Grundsätzlich braucht es eine Lösung, die den Anschluss an die Uni oder andere Ausbildungen im Herbst gewährleistet.

Katharina Maag ist Professorin für Theorie und Empirie schulischer Bildungsprozesse am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Zürich. 
Katharina Maag ist Professorin für Theorie und Empirie schulischer Bildungsprozesse am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Zürich. 
Bild: zVg

Prüfungen durchzuführen gestaltet sich im Fernunterricht als schwierig. Was schlagen Sie vor?

Entscheidend ist, dass die Schülerinnen und Schüler regelmässig eine Rückmeldung zu ihrem Lernfortschritt erhalten. Ein selektionsrelevantes Beurteilungssystem sollte man im Moment aber vergessen. Statt Prüfungen könnten etwa Lernprotokolle geführt werden. Dort kann alles dokumentiert werden, was in der jetzigen Situation gelernt wird – auch, dass man für die ältere Nachbarin einkaufen geht.



Der Fernunterricht stellt Schüler, Lehrerinnen und Eltern vor grosse Herausforderungen. Waren die Schulen für eine solche Situation ungenügend gewappnet?

Kaum, denn mit dieser Krise konnte niemand rechnen. Die Schulschliessung ist in der jüngsten Schweizer Geschichte einmalig. Die Schule hat einen gesellschaftlichen Auftrag. Es ist richtig, dass die öffentlichen Schulen stetig gestärkt wurden, um die unterschiedlichen familiären Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zu kompensieren. Doch jetzt verläuft alles in die umgekehrte Richtung: Plötzlich muss die Schule vermehrt an die Eltern delegiert werden.

Was ist besonders wichtig, damit Fernunterricht erfolgreich ist?

Die Schülerinnen und Schüler sollten klar trennen können zwischen dem Aneignen von Lerninhalten und Freizeit oder Pause. Dafür sollte ihnen zu Hause ein gut eingerichteter Arbeitsplatz zur Verfügung stehen. Leider wird das für einzelne Familien sehr schwierig sein zu realisieren. Um alle am Ball zu halten, müssen die Lehrpersonen regelmässig Feedback geben. Schliesslich ist das Lektionen-Denken nur in bestimmten Phasen sinnvoll. 

Was empfehlen Sie statt der üblichen Lektionen – längerfristige Aufträge? 

Ja, aber für Erst- oder Zweitklässlerinnen ist das schwieriger. Ältere Schüler sollten sich einem grösseren Projekt widmen, das etwa eine vertiefte Recherche bedingt. Es kann auch etwas Kreatives sein wie ein Videodreh. Am besten wird dafür ein Thema gewählt, das die Schüler interessiert. So können sie lernen, sich selbst zu motivieren, eigene Ideen zu entwickeln und sich durchzubeissen. Dazu brauchen sie aber auch die Hilfe ihrer Lehrpersonen.

Wird sich unser Schulsystem durch die Corona-Krise grundlegend verändern?

Nein, die Digitalisierung wird das Lernen nicht komplett einnehmen. Bestimmt wird man technisch besser aufgestellt sein und die jetzt entdeckten Online-Plattformen vermehrt nutzen. Die Schule wird aber weiterhin vor Ort stattfinden. Der Kontakt zu Mitschülern ist nicht zu ersetzen. Auch für Lehrerinnen ist es entscheidend, sich vor Ort auszutauschen. Die Interaktionen sind live vollkommener als per Video.



Was passiert nach der Krise in den Schulen?

Familien sind neben der Schule auch unter normalen Umständen ein zentraler Ort zum Lernen. Während die schulische Situation für alle Schüler in etwa dieselbe ist, gestaltet sich die familiäre sehr unterschiedlich. Das bereitet mir grosse Sorgen. Einige Eltern können ihre Kinder hochstrukturiert unterstützen. Andere arbeiten Vollzeit und haben kaum Zeit. Wenn die Krise vorüber ist, wird es eine grosse Herausforderung, alle wieder auf denselben Stand zu bringen. Repetition von Schulstoff und viele individualisierte Abklärungen und Unterstützung werden nötig sein.

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