Interne Dokumente zeigen SBB büssen Kunden mit strengen Regeln – so kam es dazu

jke

3.7.2024

Eine SBB-Kontrolle: Verspätete Ticketkäufe werden teuer. (Symbolbild)
Eine SBB-Kontrolle: Verspätete Ticketkäufe werden teuer. (Symbolbild)
Bild: Keystone/Christian Beutler

Interne Dokumente zeigen, wie die Schweizer Verkehrsunternehmen ihren strengen Umgang mit verspäteten Ticketkäufen trotz Kritik des Bundes durchsetzen konnten.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Jährlich verlieren die Schweizer Verkehrsunternehmen etwa 200 Millionen Franken durch Fahrgäste ohne gültiges Ticket, was zu strengen Kontrollen führte.
  • Der Bund forderte Ende 2023 eine Lockerung der Regeln insbesondere für elektronische Tickets, was zu einem Streit mit den Verkehrsunternehmen führte.
  • Eine Arbeitsgruppe wurde eingesetzt, um einen Kompromiss zu finden.
  • Die Verkehrsunternehmen setzten sich letztlich durch, sodass die bisherigen Regeln bestehen bleiben.
  • Zur Reduzierung der Bussen sollen Informationskampagnen und technische Verbesserungen bei der E-Ticket-Nutzung umgesetzt werden.

Jährlich verlieren die Schweizer Verkehrsunternehmen rund 200 Millionen Franken, weil Fahrgäste ohne gültiges Ticket unterwegs sind. Fast die Hälfte der registrierten Betrüger*innen wurde innerhalb von 24 Monaten mindestens dreimal erwischt.

Diese Summe wurde kürzlich von der Branchenorganisation Alliance Swisspass veröffentlicht und zeigt, wie gross das Problem des Schwarzfahrens ist. Diese finanziellen Verluste treffen die Branche empfindlich, und so war die Irritation bei den Verkehrsbetrieben gross, als der Bund Ende 2023 eine Lockerung des Kontrollregimes forderte, wie die «Aargauer Zeitung» berichtet.

Wenige Sekunden kosten 70 Franken

Das Bundesamt für Verkehr (BAV) schlug vor, dass Passagiere auch nach Abfahrt eines Zuges ihr Ticket elektronisch lösen dürfen. Bislang galt: Der Ticketkauf musste vor der Abfahrt abgeschlossen sein. Selbst wer nur wenige Sekunden zu spät war, riskierte eine Busse von mindestens 70 Franken.

Um den Konflikt zu entschärfen, setzten der Bund und die Verkehrsbranche eine Arbeitsgruppe ein, die eine offene Diskussion und einen Kompromiss herbeiführen sollte. CH Media erhielt aufgrund des Öffentlichkeitsprinzips Einsicht in die Sitzungsprotokolle, die einen detaillierten Blick hinter die Kulissen des Tarifstreits ermöglichen, der die Branche monatelang in Aufruhr versetzte.

Vorgehen des Bundes stiess auf Unmut

Wie gross der Frust in der ÖV-Branche damals war, zeigt ein erster Austausch am 17. Januar. Ein Branchenvertreter äusserte sich «enttäuscht» darüber, dass das BAV seine Kritik öffentlich gemacht hatte. «Das ist nicht der Stil, wie die Zusammenarbeit bisher funktionierte.»

Es war auch die Rede von «bleibenden Schäden» in der Zusammenarbeit und einer erheblichen Anzahl an Rückerstattungsforderungen, die bereits eingegangen seien, «auch von Anwaltskanzleien».

Dass Passagiere ihre Bussen zurückforderten, sorgte in der Branche für Unruhe. Es bestand die Befürchtung, dass die Debatte weitere ÖV-Nutzer*innen zu ähnlichen Klagen ermutigen könnte.

Der Vertreter von Bernmobil betonte die Wichtigkeit strenger Kontrollen. Insbesondere Jugendliche würden oft mit dem Ticketkauf warten, bis ein Kontrolleur auftauche. Erscheine ein Kontrolleur, kauften die Passagiere schnell ein Ticket – andernfalls fuhren sie gratis. Der Vertreter des Zürcher Verkehrsverbunds (ZVV) berichtete, dass solche Missbrauchsformen zunähmen.

Verkehrsunternehmen setzten sich durch

Das BAV sah dies anders. Eine Busse könne laut Gesetz nur ausgestellt werden, wenn ein Einnahmeausfall zu vermuten sei. Bei einer Passagierin, die sich in bester Absicht ein Ticket kaufen wolle, dies aber zu spät tue – etwa wegen schlechter Internetverbindung –, sei diese Voraussetzung für eine Strafe laut BAV nicht erfüllt.

Bei dieser juristischen Frage fanden der Bund und die ÖV-Branche keine gemeinsame Basis, wie die Protokolle der Arbeitsgruppe zeigen. Nach der ersten «Chropfleerete» im Januar traf sich die Arbeitsgruppe mehrmals.

In den Sitzungen setzten sich die SBB und andere Verkehrsunternehmen mit ihrer Auslegung durch und stellten sicher, dass die bisherige Regelung unangetastet blieb. In den Tarifbestimmungen heisst es daher weiterhin: Kund*innen müssen vor der tatsächlichen Abfahrt im Besitz eines gültigen Tickets sein.

Informationskampagne soll sensibilisieren

Gleichzeitig erarbeitete die Arbeitsgruppe Massnahmen, um die Anzahl der Bussen zu reduzieren und dem Bund entgegenzukommen. Ziel ist es, weniger «Zuschlagsforderungen» zu erheben, die oft nicht verstanden werden, und so die Kundenzufriedenheit zu erhöhen.

Ob Ticketautomat oder Online-Bilettverkauf: Hauptsache, das ÖV-Ticket wurde rechtzeitig gelöst. (Archivbild)
Ob Ticketautomat oder Online-Bilettverkauf: Hauptsache, das ÖV-Ticket wurde rechtzeitig gelöst. (Archivbild)
Bild: Keystone

Konkret schlug die Arbeitsgruppe am 11. April dem BAV folgende Massnahmen vor:

- Eine Informationskampagne soll die Kund*innen über die bestehende Regel sensibilisieren.

- Die Branche soll sich regelmässig über den Umgang mit zu spät gelösten E-Tickets austauschen.

- Technische Verbesserungen sollen umgesetzt werden, sodass beispielsweise die SBB-App ermöglicht, dass ein E-Ticket sofort ab Kauf gültig ist und nicht erst mit der Abfahrtszeit der ausgewählten Verbindung.

BAV fordert mehr Tempo bei Massnahmen

Die Branche plante die Umsetzung für das nächste Jahr, doch das BAV drängte auf eine Lösung bis Ende des Jahres.

Die vorgeschlagenen Massnahmen spiegelten den «kleinsten gemeinsamen Nenner» wider, stellte das BAV ernüchtert fest. Das Amt hatte sich mehr von seiner Intervention erhofft, wie aus den einsehbaren Dokumenten hervorgeht.

In den Erläuterungen zum Massnahmenpaket hiess es: «Die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe gestaltete sich für das BAV teilweise schwierig.» Sollten die Massnahmen keine Wirkung zeigen, müsse die Branche weitere Schritte prüfen. Eine Erfolgskontrolle ist für Ende des Jahres geplant.

Strenges Kontrollregime verteidigt

Der Blick hinter die Kulissen zeigt, wie die Verkehrsunternehmen den Angriff auf ihr strenges Kontrollregime abwehrten. Dennoch bleibt es in ihrem Interesse, bei den Ticketkontrollen Kulanz walten zu lassen, insbesondere bei den elektronischen Tickets.

Schliesslich ist es das erklärte Ziel der Branche, bald nur noch auf diesen Vertriebskanal zu setzen. Dies wird jedoch nur gelingen, wenn die Passagiere die Tarifregeln nachvollziehen können und das Kontrollsystem akzeptieren.