Klarer Ja-Trend zum Covid-Gesetz«Wie die Leute dann abstimmen, ist eine andere Frage»
Von Gil Bieler
3.11.2021
Auf der Strasse dominieren die Gegner des Covid-Gesetzes, in den Umfragen die Befürworter. Ein Widerspruch? Und ist das Rennen schon gelaufen? Antworten von Vertretern beider Lager – und eines Politologen.
Von Gil Bieler
03.11.2021, 18:08
04.11.2021, 10:55
Gil Bieler
Es ist eine auffällige Diskrepanz: In der öffentlichen Wahrnehmung geben die Gegner des Covid-Gesetzes ganz klar den Ton an – laut und zahlreich, wie die regelmässigen Demonstrationen und die zahlreichen Plakate im ganzen Land zeigen.
In den Abstimmungsumfragen dagegen zeigt sich ein anderes Bild: Dort sagt eine klare Mehrheit, sie wollten am 28. November für das Covid-Gesetz stimmen. In der neuesten Erhebung von Tamedia/«20 Minuten» konnte das Pro-Lager sogar auf 69 Prozent zulegen.
Dabei agiert das Lager der Gesetzesbefürworter auffällig unscheinbar: Die Parteien wollen ihre Ja-Kampagne erst am morgigen Donnerstag vorstellen. Zudem hat die von Privaten organisierte «Ja-Kampagne der Zivilgesellschaft» nach eigenen Angaben nur gerade 60'000 Franken an Spenden in der Kriegskasse. Auf eigene Kundgebungen verzichtet man gänzlich – und zwar ganz bewusst, wie Kampagnenleiter Peter Metzinger auf Anfrage von blue News erklärt.
«Wir können es nicht verantworten, zu einer weiteren Eskalation beizutragen», so Metzinger. Was er damit meint: «Die Gegnerseite ist sehr aggressiv und würde womöglich zu einer Gegenkundgebung aufrufen. Und ich will keine Bilder sehen von Teilnehmenden, die aufeinander losgehen, und von Polizisten, die beide Lager trennen müssen.»
Ausserdem, so der FDP-Politiker aus Dietikon ZH weiter, spiele auch die epidemiologische Entwicklung bei diesen Überlegungen eine Rolle: «Die Fallzahlen steigen wieder an, und es ist ohnehin nicht ratsam, dass sich allzu grosse Menschenmengen mischen.»
Die «Kundgebung» des Ja-Lagers werde der Gang an die Urne sein, so Metzinger. Ist das nicht eine riskante Strategie, wenn starke Bilder von Menschenmengen fehlen – während die Massnahmengegner weiter demonstrieren werden? «Das ist in der Tat ein Risiko», räumt Metzinger ein. Aber aus erwähnten Überlegungen müsse man dieses in Kauf nehmen.
«Wie die Leute abstimmen, ist eine andere Frage»
Aufseiten der Massnahmengegner lässt man sich von den neuesten Umfragen nicht beirren: «Gerade bei diesem Thema sind manche Leute vorsichtig, welche Aussagen sie in Umfragen machen. Wie sie dann abstimmen, ist eine andere Frage», sagt Josef Ender vom Aktionsbündnis der Urkantone. «Die Umfragen lagen auch schon bei anderen Abstimmungen daneben.»
Grosser Aufmarsch der Massnahmengegner in Bern
Tausende Gegnerinnen und Gegner der bundesrätlichen Coronapolitik haben sich in Bern zu einer nationalen Grosskundgebung versammelt.
03.11.2021
Dass die Gegenseite so zögerlich agiert, sei auch gar nicht im Interesse der Massnahmenkritiker: «Wir haben lange versucht, den Dialog zu führen, aber leider ohne Erfolg.» Das Aktionsbündnis der Urkantone habe lange versucht, Podiumsdiskussionen mit Politikern aus Uri und Schwyz zu organisieren. «Aber am Ende habe nur ein einziger Politiker zugesagt, die Ja-Position zu vertreten.»
Auf die fehlenden Kundgebungen der Gegenseite angesprochen, meint Ender mit einem Lachen: «Ich glaube auch nicht, dass wahnsinnig viele Leute sich mobilisieren liessen, für ein Ja zum Covid-Gesetz zu demonstrieren.»
Einen Zusammenhang zwischen den Massnahmen-Demonstrationen und der Abstimmung sieht er dagegen nicht: «Die Kundgebungen sind ja nicht vom Abstimmungskomitee organisiert, sondern ein Zeichen dafür, dass viele Menschen mit der Corona-Politik nicht einverstanden sind.»
Zwei komplett unterschiedliche Kampagnen
Politologe Claude Longchamp vom Forschungsinstitut gfs.Bern meint: «Das Ja-Lager agiert vielleicht etwas zu zurückhaltend, aber kann sich stilistisch und inhaltlich nichts vorwerfen lassen.» Weil die Befürworter einen Entscheid von Regierung und Parlament unterstützen, müssten sie auf einen nüchternen, sachlichen Ton setzen.
Die Gegnerseite dagegen sei sowohl im Parlament als auch in der Bevölkerung in der Unterzahl. «Die Gegner müssen daher eine möglichst emotionale Kampagne machen in der Hoffnung, dadurch unentschlossene Leute an die Urne zu bringen. Denn wenn sie einfach ihre Argumente wiederholen, werden sie keine Mehrheit machen können.»
Longchamp ruft die erste Referendumsabstimmung vom Juni in Erinnerung, als 60 Prozent Ja gestimmt hatten. Dies bei einer sehr hohen Stimmbeteiligung von 59,6 Prozent, «der sechsthöchsten Mobilisierung überhaupt». Damals hätten die Massnahmengegner erst noch davon profitiert, dass die anderen Vorlagen, das CO2-Gesetz und die beiden Pestizidinitiativen, auf dem Land stark bewegt hätten. Dieser Effekt falle nun weg.
«Die Meinungsbildung findet nicht allein in den Medien statt, sondern in zahllosen Gesprächen im Alltag.»
Claude Longchamp
Politologe gfs.Bern
Die landläufige Annahme, dass die Gegner des Covid-Zertifikats in hohem Mass mobilisiert seien, sieht Longchamp daher kritisch. «Die Meinungsbildung findet nicht allein in den Medien statt, sondern in zahllosen Gesprächen im Alltag der Leute. Und da haben viele mittlerweile genug von den lauten Protestaktionen.» Den Streit um das Restaurant Walliserkanne in Zermatt sieht er als vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung.
Auch zeige sich, dass die SVP, die als einzige der grossen Parteien für ein Nein zum Covid-Gesetz kämpft, davon politisch nicht profitieren könne. Die Partei verlor bei den Gemeindewahlen im Aargau die meisten Sitze. «Und erst am Sonntag hat die SVP in Langnau, dem Inbegriff der konservativen Berner Landbevölkerung, die grössten Verluste eingefahren. Die GLP und SP haben zugelegt – in Langnau!»
Unter dem Strich erwartet Longchamp, dass die Zustimmung am 28. November tiefer ausfallen werde als in der neuesten Tamedia-Umfrage – trotzdem dürften sich aber die Befürworter durchsetzen.
Josef Ender vom Aktionsbündnis der Urkantone bleibt trotz aller Prognosen optimistisch: «Ich glaube, dass wir noch viel erreichen können.»