Coronakrise Wie das Tessin die Lage in den Griff bekam – und die Waadt zum Hotspot wurde

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25.9.2020

Eine Covid-19-Station in Lausanne: Im Kanton Waadt haben die Coronafälle wieder zugenommen. Derweil hat sich die Lage im Tessin beruhigt.
Eine Covid-19-Station in Lausanne: Im Kanton Waadt haben die Coronafälle wieder zugenommen. Derweil hat sich die Lage im Tessin beruhigt.
KEYSTONE/Ti-Press/Pablo Gianinazzi

Zu Beginn der Pandemie galt das Tessin als Sorgenkind der Schweiz. Nun weist der Kanton seit Wochen tiefe Infektionszahlen auf. Derweil wurde die Waadt zum neuen Hotspot. Wie kommt das?

Im März sah es im Tessin nicht gut aus. Die Coronapandemie hatte auch die Schweiz erfasst, und der südliche Kanton aufgrund seiner Nähe zum Hotspot Italien mit den höchsten Infektionszahlen des Landes zu kämpfen. Doch die Situation hat sich geändert, gewissermassen umgekehrt. Heute finden sich in der Südschweiz nur wenige aktive Fälle, die Zahl der Neuinfektionen ist seit Wochen auf niedrigem Niveau. Wie konnte dieser Erfolg gelingen?

Einen Grund sieht der Tessiner Kantonsarzt Giorgio Merlani darin, dass bereits zehn Prozent der Bevölkerung an Covid-19 erkrankt waren. Im Interview mit SRF weiss er noch eine weitere Erklärung: «Der wichtigste Punkt ist aber die grosse Sensibilität der Bevölkerung. Die Menschen halten sich an die Hygienemassnahmen.» Das funktioniert einerseits freiwillig, andererseits aber auch durch Vorgaben.



So müssen die Clubs eine Obergrenze von 100 Gästen einhalten, allgemein sind Versammlungen von über 30 Personen nicht erlaubt. Bis vor Kurzem waren zudem Besuche auf den Zimmern in Altersheimen verboten, manche Heime verfuhren laut SRF überaus strikt. Dahingehend hat der Kanton die Massnahmen nun gelockert.

Eigenverantwortung im Tessin

Doch vor allem die Eigenverantwortung scheint im Tessin zu funktionieren: Ganz ohne Vorschrift tragen die meisten Einwohner etwa beim Einkaufen Masken. Wie der Basler Epidemiologe Marcel Tanner gegenüber «Watson» sagte, liege das «auch daran, dass die dortige Bevölkerung stärker sensibilisiert ist, da sie stärker von der Pandemie betroffen war und die Nachbarsituation in Italien direkter erfahren hat».

Die Tessiner hätten gewusst, «was passiert, wenn die Spitäler überlastet sind, wenn plötzlich viele Menschen beatmet werden müssen oder sterben», so Tanner weiter. Entsprechend grösser sei «ihr Verständnis für die Massnahmen zur Eindämmung des Virus. Vergleichbares gilt für Italien. Dort sieht man kaum Coronarelativierer demonstrieren. Die Menschen wissen, dass die Massnahmen richtig und wichtig sind». 

«Die Maske lieben lernen»

Dass Masken in der Pandemie tatsächlich den Unterschied machen können, zeigt sich auch in Zürich. Die Maskenpflicht habe der Stadt Schlimmeres erspart, vermutet Infektionsexperte Jan Fehr von der Uni Zürich im Interview mit dem «Tages-Anzeiger». «Übertragungen finden vor allem dort statt, wo keine Masken getragen werden», so Fehr. Er berufe sich dabei auf eine wissenschaftliche Übersichtsarbeit, die zeige, «dass Tröpfcheninfektionen die Hauptursache für Ansteckungen sind».

Dem Experten zufolge sollten wir daher «die Maske lieben lernen, wie kürzlich eine Wissenschaftskollegin von mir sagte. Die Maske erlaubt uns, wie gewohnt in die Läden zu gehen, und hilft uns, einen zweiten Lockdown zu verhindern». Während die Maskengegner laut Fehr vor allem medial viel Raum einnähmen, sei er hingegen beeindruckt, «wie vorbildlich sich die meisten Leute verhalten»: Wie man sich schützt, sei inzwischen bei den Menschen angekommen. 



Doch Entwarnung scheint mit Blick auf den nahenden Herbst nicht unbedingt geboten. Mit Blick auf Zürich weiss Experte Fehr laut «Tages-Anzeiger»: «Im Vergleich mit dem Kanton Waadt haben wir das Virus einigermassen im Griff – aber die Situation kann kippen.» Das Virus könne «wieder von den Jungen auf die Älteren überschwappen, wie sich das in der Waadt heute schon andeutet».

Wie wurde Waadt zum Hotspot?

Ganz gegensätzlich zur Tessiner Entwicklung ist die Waadt zum neuen Hotspot der Schweiz geworden. Die Infektionszahlen steigen an, betroffen sind vor allem Ältere, über 2'000 Menschen befinden sich in Quarantäne. «Der neuerliche Anstieg von Infektionen beunruhigt», wurde die Waadtländer Regierungspräsidentin Nuria Gorrite zitiert. Eine Verschärfung der Massnahmen soll helfen – betreffend vor allem das Nachtleben und grosse Familienfeiern. Ganz zentral: eine Maskenpflicht in den meisten öffentlich zugänglichen Räumen.

Kommen diese Regelungen zu spät? Nein, sagt Epidemiologe Marcel Tanner gegenüber «Watson»: «Man muss sehen, dass es wegen der langen Inkubationszeit immer etwas dauert, bis sich eine verstärkte Ansteckung in den Fallzahlen niederschlägt. Es ist also falsch, zu sagen, dass nicht reagiert wurde. Der angebrachte Zeitpunkt, etwas zu tun, der war jetzt.» Doch wie kam es überhaupt dazu, dass der Kanton Waadt zum neuen Hotspot werden konnte?



Laut Tanner gibt es dafür verschiedene Gründe: «Wichtig zu erkennen ist, dass die Covid-Fallzahlen in der Romandie nicht erst seit gestern stärker ansteigen. Man erinnere sich an die Superspreader-Fälle von Verbier im Kanton Wallis. Der wirkt in der Westschweiz bis heute nach.» Eine weitere Erklärung sieht er im Nachtleben – und in der Schliessung der Clubs in Genf Anfang August: «Was passiert, wenn in einem Kanton die Clubs schliessen? Man geht einfach dahin in den Ausgang, wo die Discos noch offen sind, über die Kantonsgrenze in die Waadt also.»

Zürich erhöht Anzahl Personen in Bars – macht das Sinn?

Derweil dürfen in Zürich die Bars und Clubs wieder 300 Gäste empfangen. Eine gute Idee? «Es kommt sehr darauf an, wie das gelebt wird. Da gibt es Riesenunterschiede zwischen den Betrieben», meint Jan Fehr gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Das Entscheidende steht für ihn fest: «Solange sie eine Maske tragen, im Prinzip schon.»

Doch beobachte er im Alltag «manchmal Leute, die die Maske zum Trinken abziehen und dann so tun, als sei der Trinkvorgang erst dann abgeschlossen, wenn das PET-Fläschchen leer ist. Statt die Maske zwischendurch wieder aufzusetzen».

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