Das Dorf Berzona von der Hauptstrasse aus gesehen
Der Blick vom Dorf Berzona in Richtung Locarno
Das Bild zeigt das alte Strassenschild, das den Weg nach Berzona anzeigt.
Der zentrale Platz von Berzona verwandelt sich während des Dorffestes zumindest für eine Sommernacht in eine Tanzfläche.
Auf dem Foto die Gedenktafel für den Schriftsteller Max Frisch am Ortseingang von Berzona: «Verdienter Schriftsteller, Ehrenbürger von Berzona, die Gemeinde dankt ihm dafür, dass sie sein Zufluchtsort wurde. Der Gemeinderat».
Berzona, die Zürcher Stadt der Onsernone
Das Dorf Berzona von der Hauptstrasse aus gesehen
Der Blick vom Dorf Berzona in Richtung Locarno
Das Bild zeigt das alte Strassenschild, das den Weg nach Berzona anzeigt.
Der zentrale Platz von Berzona verwandelt sich während des Dorffestes zumindest für eine Sommernacht in eine Tanzfläche.
Auf dem Foto die Gedenktafel für den Schriftsteller Max Frisch am Ortseingang von Berzona: «Verdienter Schriftsteller, Ehrenbürger von Berzona, die Gemeinde dankt ihm dafür, dass sie sein Zufluchtsort wurde. Der Gemeinderat».
Die Einwohnerzahl des Tessiner Dorfs Berzona kann innert kürzester Zeit von 30 auf 200 anwachsen. blue News Redaktor Paolo Beretta zeigt die Vor- und Nachteile dieser freundlichen Übernahme auf.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Redaktor Paolo Beretta stammt aus einem Tessiner Dorf namens Berzona, wo er sich zurückzieht, wenn er Ruhe und Erholung braucht.
- Auch wenn das Dorf ein Tourismus-Magnet ist, hat es seinen Charme bewahren können.
- Dass viele Menschen in sein Dorf kommen, stört Beretta jedoch nicht sonderlich, denn sein Dorf war stets dafür bekannt, interessante und talentierte Menschen anzuziehen.
- So verkehren grosse Denker und berühmte Astronauten im Onsernonetal.
Jede Woche reise ich aus der grossen, schönen und lauten Stadt Zürich, in der ich arbeite, in das kleine Tessiner Dorf Berzona, das von Natur umgeben, ruhig und friedlich ist. Hier lebe ich. Hier gewinne ich die Energie zurück, die mir das Leben in der Grossstadt unweigerlich raubt.
Ich arbeite seit fast acht Jahren in Zürich. Früher konnte ich nicht verstehen, warum Freunde und Kollegen von nördlich der Alpen stundenlange Staus auf den Strassen in Kauf nehmen, um nur für ein paar Tage ins Tessin zu kommen.
Aber jetzt verstehe ich es. Südlich der Alpen haben wir Glück: Wir haben ein mediterranes Klima mit viel Sonne und das Leben verläuft weniger schnell. Kurzum: Es ist der ideale Ort, um sich zu erholen.
Ist Berzona wie Zürich?
Es passiert gelegentlich, dass ich in Berzona bin und mich trotzdem fühle, als wäre ich in Zürich. Und dann habe ich das Bedürfnis, an einen ruhigeren, noch abgelegeneren Ort zu fliehen.
Das geschieht zu Ostern und während einiger Sommerwochen. In diesen Zeiten höre ich in meinem kleinen Dorf viele Sprachen: von Schweizerdeutsch bis Hochdeutsch, von Französisch bis Englisch, und ganz nebenbei, wenn auch in der Minderheit, sogar Spanisch und Polnisch.
Zudem wächst die Bevölkerung, genau wie in der Stadt. Hier leben das ganze Jahr über etwa 30 Personen (die Hälfte davon sind meine Verwandten, einschliesslich Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen), aber zu Ostern und im Sommer schwellen wir schnell auf ein paar Hundert an, da überall Menschen aus den vielen Ferienhäusern auftauchen, die in den Wintermonaten leerstehen.
Rucksack anziehen und los!
Obwohl ich diese Multikulturalität liebe, mit tausend interessanten Geschichten, denen ich zuhören kann, und hundert verschiedene Welten, die es zu entdecken gilt (was wäre ich sonst für ein Journalist?), habe ich daselbe Gefühl wie in Zürich: Ich brauche mehr Ruhe. Ich muss weg. Und wenn ich kann, tue ich es.
Ich habe Glück, denn ich brauche mir nur den Rucksack auf den Rücken zu schnallen. Nach einem etwa vierzigminütigen Fussmarsch bergauf erreiche ich meine kleine Hütte. Meine einzige Gesellschaft ist die Natur mit ihren Düften, ihren Geräuschen und ihren wilden Tieren, die im Winter nachts vor meiner Haustür auftauchen: Gämsen, Rehe, Füchse und Steinmarder, und tagsüber Eichhörnchen, Spechte, Meisen, Falken und sogar Adler.
Berzona, eines der fortschrittlichsten Dörfer im Tessin
Berzona ist ein besonderes Dorf, denn trotz seiner Abgeschiedenheit herrscht dort seit langem ein fortschrittlicher Geist. So machte es 1992 Schlagzeilen, weil es als einzige Tessiner Gemeinde Ja zum Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum stimmte, der von Volk und Kantonen insgesamt abgelehnt wurde.
Der multikulturelle Charakter von Berzona, der Zürcher Stadt des Onsernonetals, ist auch das Vermächtnis der Intellektuellen, die hier gelebt haben. Der Schriftsteller Alfred Andersch und seine Malergattin Gisela wählten Berzona als Wohnort, ebenso wie der berühmte deutsche Drucker und Designer Jan Tschichold und nicht zu vergessen der Architekt und gefeierte Dramatiker Max Frisch. Auch der deutsche Historiker und Schriftsteller Golo Mann, Sohn des berühmteren Thomas Mann, hatte mein Dorf als Ort für seine langen Ferien gewählt.
Dialekt aus vergangenen Zeiten
Sie alle suchten, genau wie ich, die Ruhe. Natürlich haben sie dank der Ruhe, die sie hier gefunden haben, und dank ihres brillanten Geistes Kunst und Kultur hervorgebracht, die das kulturelle Leben weit über Onsernone und die Schweiz hinaus beeinflusst haben.
Als eine der ärmsten Regionen des Tessins wanderten viele Einwohner*innen ab. Heute kehren diese Migranten oder ihre Kinder zumindest für die Ferien in die Heimat ihrer Eltern zurück, sodass ein umgekehrter Exodus stattfindet.
Einige von ihnen sprechen den Dialekt vergangener Zeiten, weil sie ihn als Kinder gelernt haben und ihn nie mit neuen Wortschöpfungen vermischt haben, wie wir, die wir einen zunehmend standardisierten Dialekt sprechen. Wenn man ihnen zuhört, muss man fast schmunzeln, denn sie benutzen Wörter, die wir schon lange nicht mehr gehört haben. Diese Migranten, die in ihr Heimatland zurückkehren, bringen Sitten und Gebräuche aus anderen Regionen, anderen Städten mit. Sie bringen auch Nachrichten und Gefühle mit, die sie in anderen Realitäten erlebt haben.
Regionen wurden zu Freunden
Deshalb erzählt mir zum Beispiel ein 80-jähriger Pariser aus Berzona, wenn er aus der Ville Lumière zurückkehrt, von dem Elend, das er in seiner Stadt sieht. «Sie werden sehen, in ein paar Jahren wird es Strassenkämpfe geben, Guerillakriege. Die Menschen sind von so vielen Dingen genervt. Es herrscht Armut, die jungen Leute haben keine Zukunft. Früher oder später wird es gewalttätige Proteste geben.»
Das war 2017. Deshalb war ich einige Monate später nicht überrascht von den Unruhen, die die Gilet jaunes 2018 und in den vergangenen Wochen wegen der Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron aufkamen. Die Glut des Protests, so hatte mir der adoptierte Pariser erzählt, schwelte schon seit einiger Zeit in der Gesellschaft der französischen Grossstädte.
Dank der Deutschschweizer und Deutschen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Tessin kamen und die Häuser unserer Grosseltern kauften, wurden die beiden Regionen zu Freunden. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mir meine Grossmutter von der Ankunft der ersten «Ausländer» erzählte und von den Spitznamen, die ihnen von den Dorfbewohnern gegeben wurden, entweder weil die Familiennamen für jemanden wie sie, die kein Deutsch konnte, zu schwierig auszusprechen waren, oder weil ein bestimmter Name sie so gut charakterisierte, dass man leicht verstand, von wem man sprach.
Sehen heisst glauben
Die Bergler sind von Natur aus misstrauisch. Und auch ich war in meiner Jugend misstrauisch gegenüber Deutsch- oder Schweizerdeutschsprachigen, gegenüber denen, die wir «Züchitt» nannten. Wahrscheinlich war es damals, vor 30 Jahren, nicht nur Misstrauen, sondern auch Neid gegenüber denen, denen es wirtschaftlich sichtbar besser ging als uns.
Wenn ich jetzt daran denke, muss ich lächeln. Denn im Laufe der Jahre sind diese «Fremden» zu Freunden geworden. Sie kommen jedes Jahr, sogar mehrmals, sogar aus so weit entfernten Orten wie Berlin oder Paris oder sogar, etwas seltener, angesichts der Entfernung, aus den Vereinigten Staaten. Sie haben sich integriert, sie bemühen sich sogar, ein wenig Italienisch zu sprechen.
Berzona als die Zürcher Stadt des Onsernone zu bezeichnen, scheint ein wenig respektlos zu sein. Schliesslich gibt es hier weder Bars noch Restaurants, nicht einmal eine Herberge zum Übernachten. Und um hierherzukommen und sich zu entspannen, muss man jemanden kennen, der einen aufnimmt. Der «Hit-and-Run»-Tourismus, der konsumorientierte und manchmal sogar respektlose Tourismus, der sich in anderen geografischen Gebieten mit den verschiedenen Apps wie Airbnb entwickelt hat, hat sich in meinem Dorf zum Glück nicht durchgesetzt.
Glaubst du nicht, dass man in Berzona Menschen aus allen Teilen der Welt treffen kann? Besuche uns einfach während der Feste, die wir im Dorf organisieren, und du wirst es selbst feststellen. Dieses Jahr finden sie, sofern das Wetter mitspielt, am Freitag, 21. und Samstag, 22. Juli statt. Sie werden definitiv nicht wie die Feste in Zürich sein. Sie werden ländlicher und einfacher sein. Auf Risotto und Merlot kann man hier nicht verzichten. Wie soll man es ausdrücken? Wir sind international und progressiv, um den Geist zu nähren, aber lokal, um den Körper zu nähren.
Sogar Astronauten fürchten die Bergstrasse
Ich empfehle dir, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anzureisen. Das ist ein Teil des Abenteuers. Es ist umweltfreundlicher, und du vermeidest die stundenlangen Staus am Gotthard, am San Bernardino oder auf dem Piano di Magadino. Und vor allem läufst du nicht Gefahr, von den Onsernonesen «verflucht» zu werden, weil du auf der Bergstrasse zu langsam bist aus Angst, gegen Felsen zu fahren oder 200 Meter in Schluchten zu stürzen.
Oder weil man nicht in der Lage ist, auf einer so engen und kurvenreichen Strasse rückwärtszufahren. Eine Strasse, die so kompliziert ist, dass sogar der amerikanische Astronaut Walter Schirra, der als einziger Mann an den drei Gründungsprogrammen der Nasa (Gemini, Mercury und Apollo) teilgenommen hatte und dessen Grosseltern aus Onsernone stammen, bei einem Besuch in seinem Heimattal am 5. Mai 1976 sagte: «Es war einfacher, um den Mond herum ins All zu fliegen, als Loco zu erreichen.»
Transparenz-Hinweis: Dieser Artikel erschien das erste Mal an Ostern 2023. Aus aktuellem Anlass bringt ihn blue News erneut.
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30.06.2022