12 oder 75 Prozent? So viele Nutztiere haben tatsächlich Zugang zu einer Weide

Von Alex Rudolf

20.8.2022

Wenige Tage alte Küken in einem Poulet-Mastbetrieb.
Wenige Tage alte Küken in einem Poulet-Mastbetrieb.
Jens Büttner/zb/dpa

Die Initiant*innen der Massentierhaltungs-Initiative und der Bund verbreiten unterschiedliche Zahlen, wenn es um die Anzahl Tiere in der Schweiz geht, die ins Freie dürfen. Zwei Gründe sind verantwortlich.

Von Alex Rudolf

20.8.2022

Schenkt man dem Faktenblatt zu den Tierwohlprogrammen des Bundes Glauben, hatten im Jahr 2020 rund 78,1 Prozent der Schweizer Nutztiere Zugang ins Freie. So viele sind im RAUS-Programm (Regelmässiger Auslauf ins Freie) ausgewiesen – der Bund subventionierte Betriebe, die dies anbieten mit knapp 200 Millionen Franken.

Auf der Webseite der Initianti*innen geht man aber von ganz anderen Zahlen aus. So wird darauf verwiesen, dass lediglich 12 Prozent der Schweizer Nutztiere Zugang zu einer Weide haben. Woher kommt der Unterschied und noch viel wichtiger: Wer hat recht?

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Diese Frage ist wichtig im Hinblick auf den 25. September. Dann stimmt das Schweizer Stimmvolk über die Massentierhaltungsinitiative ab, in welcher unter anderem verlangt wird, dass sämtliche Nutztiere Zugang zum Freien haben. Bundesrat und Parlament, die gegen die Initiative sind, monieren, dass bereits heute ein Grossteil dieser Tiere nach draussen kann.

Initiant*innen zählen jedes Küken, der Bund nicht

Bei seinen landwirtschaftlichen Berechnungen geht der Bund von sogenannten Grossvieheinheiten aus. Eine solche Einheit besteht beispielsweise aus 250 Mastküken oder 100 Legehennen. Aber auch 17 Ferkel oder eine Kuh entsprechen einer solchen Einheit.

«Bei unseren Berechnungen gehen wir nicht von den Grossvieheinheiten aus, sondern vom einzelnen Tier. Nur dies ist sinnvoll, wenn man etwas über das Tierwohl aussagen will», sagt Agrarökonomin Priska Baur, auf deren Studie sich die Initiant*innen stützen. Insbesondere zwei Faktoren sorgen dabei für die Unterschiede.

Erstens variiert die Lebensdauer von Nutztieren markant. Während ein Mastschwein rund halbjährig wird, wird eine Milchkuh in der Schweiz im Alter von fünf bis sieben Jahren geschlachtet. Mastküken hingegen werden lediglich 28 bis 42 Tage alt. 

Dies ist wichtig, denn bei der Berechnung des Bundes nimmt man die Werte an einem Stichtag. Dies hat aber schwerwiegende Folgen: Aufgrund der unterschiedlichen Lebensdauer der Tiere ist beispielsweise der Stellplatz einer Kuh durchschnittlich das ganze Jahr von demselben Tier belegt. Der erhobene Platz eines Mastkükens wird übers ganze Jahr aber von sieben bis zehn Tieren belegt. Diese fallen aber aus der Erhebung des Bundes raus.

«Bundesrat verfälscht das Bild»

Zweitens zeigt sich eine weitere Verzerrung beim Beispiel Kuh und Mastküken besonders gut: Laut Bund sind 85 Prozent der Schweizer Rinder Teil des RAUS-Programms. Beim eher kurzlebigen Nutzgeflügel sind es lediglich 43,6 Prozent – bei den Mastpoulets gar lediglich 8,2 Prozent. Bei der Erhebung des Bundes wird aufgrund der Einteilung in Grossvieheinheiten eine Kuh mit 250 Küken gleichgesetzt.

Veranschaulicht werde dies auch dadurch, dass es gemäss Bundesamt für Statistik in der Schweiz im Jahr 2021 lediglich 7,5 Millionen Mastpoulets gab, geschlachtet wurden aber 79 Millionen. «Die Angaben, mit denen der Bundesrat argumentiert, sind klar irreführend, sie beschönigen die Schweizer Tierproduktion. Der grösste Teil des sogenannten Schweizer Fleisches stammt von Tieren, die nie auf einer Weide waren. In der Öffentlichkeit wird dies leider nicht diskutiert.»

«Noch habe ich keinen Aussenklimabereich gesehen, der wie ein Waldrand gestaltet ist.»

Priska Baur

Agrarökonomin

Beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit heisst es, die Zahl von 12 Prozent sei korrekt, wenn man alle Nutztiere unabhängig von ihrer Grösse zusammenzähle, wie Sprecherin Doris Schneeberger bestätigt.

Doch gibt es Facetten: So würden die Mastpoulets betreffend Auslauf einen Sonderfall bilden, sagt Schneeberger. So seien rund 97,5 Prozent dem zweiten Bundesprogramm namens BTS («Besonders tierfreundliche Stallhaltungssysteme») angeschlossen. «Also haben praktisch alle bereits mindestens Auslauf an die frische Luft, respektive in den Aussenklimabereich, der den natürlichen Lebensraum Waldrand gut abbildet», sagt sie. Und zudem: «Weiter sind Hühner per se keine Weidetiere und sind damit nicht auf eine grüne Wiese angewiesen.»

Baur relativiert. «Noch habe ich keinen Aussenklimabereich gesehen, der wie ein Waldrand gestaltet ist.» Der Zugang zu solchen Bereichen sei zudem in den ersten 21 Lebenstagen fakultativ und schwierig erreichbar für viele Hühner. «Tausende von Tieren leben auf kleinstem Raum: 97 Prozent der Mastpoulets leben in Beständen von mehr als 4000 Tieren. Deshalb und weil sie rasch zu schwer sind, können sie diesen Wintergarten oftmals nicht nutzen», so Baur.