Oberste Schweizer Lehrerin: «Ich als Mutter mache mir grosse Sorgen»
Vor Beginn des neuen Schuljahres fordert das Deutsch- und Westschweizer Lehrpersonal von Bund und den Kantonen mehr Unterstützung. Der anhaltende Mangel an Lehrkräften sowie die zusätzlichen Herausforderungen durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg würden den Bildungserfolg gefährden.
08.08.2022
Der «eklatante Personalmangel» bringe die Lehrerschaft an ihre Grenzen, heisst es an der Medienkonferenz der Lehrerverbände. Gewisse Lücken könnten durch unqualifiziertes Personal gestopft werden – doch dies bringe neue Probleme.
Die Lehrerinnen und Lehrer schlagen zum Schulbeginn Alarm: Wegen des Personalmangels betreuen die Schulen in der Schweiz die Kinder zunehmend, statt sie auszubilden. Nicht qualifizierten Lehrpersonen bringen eher eine Mehrbelastung als eine Entlastung.
Bund und Kantons müssten tätig werden - auch finanziell. Zum Schuljahresbeginn seien noch mehrere hundert Stellen unbesetzt, hielten der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) und das Syndicat des Enseignant-es Romande-es (SER) am Montag vor den Medien in Bern fest.
LCH-Zentralpräsidentin Dagmar Rösler erklärte, sie mache sich auch als Mutter wegen des Personalmangels und der einspringenden nicht qualifizierten Aushilfs-Lehrkräfte Sorgen um die Bildungsqualität. «Oft geht es mehr um Betreuung als um Bildung», sagte sie. Für den Unterricht reiche es nicht, Kinder gern zu haben.
Befristete Notlösungen
Zur Arbeit in der Schule bedürfe es qualifizierter Fachleute. Jedes Kind habe das Recht auf Bildung. Zudem müsse Chancengleichheit herrschen. Gerade benachteiligten Schülerinnen und Schülern könne dies aber mit nicht oder ungenügend qualifiziertem Personal nicht garantiert werden.
An die Kantone als Inhaber der Bildungshoheit richtete Rösler den Vorwurf, der demografischen Entwicklung untätig zugesehen zu haben: Viele Lehrkräfte der geburtenstarken Jahrgänge kommen ins Pensionsalter, die Schülerzahlen steigen - das sei absehbar gewesen.
Statt das Problem des Lehrernachwuchses an die Hand zu nehmen, hätten die Kantone den Schulen immer mehr Aufgaben übertragen. Nun brauche es eine langfristig Planung. «Verzweiflungstaten» wie die aktuellen müssten befristet sein.
Mehr Aufwand für erfahrene Lehrer
SER-Präsident David Rey erklärte, nicht oder ungenügend qualifiziertes Personal erfordere seitens der erfahrenen Lehrkräfte einen erhöhten Betreuungsaufwand. So entpuppe sich die vermeintliche Entlastung in vielen Fällen als Mehrbelastung einer bereits überlasteten Lehrkraft.
Es gehe nicht an, dass sich unerfahrene Lehrerinnen und Lehrer die Flügel verbrennen und vor der Klasse scheitern. Ziel müsse es sein, qualifizierte Lehrkräfte in der Schule zu behalten. Dazu gehörten zeitgemässe Anstellungsbedingungen, Unterstützung von Anfängerinnen und Anfängern und eine Steigerung des Prestiges des Lehrerberufs.
Schulpsychologie fördern
Rösler versicherte, die Lehrerschaft tue alles, um die Lücken zu füllen. Unterdessen seien diese aber allzu gross geworden. Nicht leichter werde die Situation nach der kaum überstandenen Covid-19-Pandemie durch die Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine.
Die Lehrerinnen und Lehrer seien mit der Integrationsproblematik vertraut und verfügten über entsprechende Mittel wie Landessprachen-Unterricht am Vormittag und Teilnahme an der Regelklasse am Nachmittag.
Die Schule könne Integration und Betreuung aber nicht alleine stemmen. Bund und Kantone müssten zusätzliche Gelder für die Gemeinden zur Verfügung stellen. Zudem seien gerade wegen der von den ukrainischen Kindern und Jugendlichen erlittenen Traumata zusätzliche Ressourcen für Schulpsychologie und -sozialarbeit nötig.
Einheitliche Krisenbewältigung
Aus der Pandemie ziehen die beiden Lehrerverbände den Schluss, dass der Föderalismus bei der Erarbeitung einheitlicher Massnahmen an die Grenzen kam. Sie schliessen sich darum den Forderungen nach einem nationalen Stab für künftige Krisen an.
Dieser soll sich aus Experten von Bund und Kantonen zusammensetzen. Als systemrelevante Branche müsste in dem Gremium auch die Lehrerschaft mitreden können.
Schule findet nicht nur im Klassenzimmer statt, halten LCH und SER weiter fest. Ausserschulische Lernorte sind für einen erfahrungs- und lebensorientierten Unterricht zentral. Um die Teilnahme an Exkursionen und Lagern sicherzustellen, halten die Verbände vergünstigte Tageskarten für unerlässlich. Ein Etappenziel ist demnach erreicht: Swisspass bietet für Schulreisen eine Tageskarte für 15 Franken pro Kopf an.
Die Medienkonferenz zum Nachlesen:
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10.40 Uhr
Die Medienkonferenz ist beendet
Vielen Dank für deine Aufmerksamkeit.
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10.36 Uhr
Eltern wissen oft nicht, wie die Lehrer ihrer Kinder ausgebildet sind
Als Mutter einer Tochter wäre Rösler besorgt, würde diese von einer unausgebildeten Lehrperson unterrichtet. Gibt es viele Beschwerden von Eltern, die dies bemängeln, will eine Journalistin wissen. Oder gebe es gar vermehrt Eltern, die privat unterrichten lassen?
«Erstaunlicherweise hören wir wenig von Elternvereinigungen», sagt Rösler. Man versuche jedoch, den Ball flach zu halten, indem man vielerorts nicht kommuniziert, wer denn angestellt wurde. «Die Eltern wissen teils nicht, wie die Lehrer ihrer Kinder qualifiziert sind.»
Dass Privatschulen gestärkt werden, indem man die Volksschule schwächt, indem unterqualifiziertes Personal angestellt wird, sei denkbar. «Dieser Tendenz möchten wir aber keinen Steilpass ermöglichen.»
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10.34 Uhr
Wie fühlen Sie sich, den Schulstart so ohne Corona-Massnahmen zu bestreiten?
Die Lehrpersonen seien besorgt, sagt David Rey. Man beobachte aufmerksam, wie sich die Situation entwickle. Falls nötig, würden die Massnahmen von Kantonen und Bund mitgetragen, um eine weitere Schliessung der Schulen zu verhindern.
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10.30 Uhr
Mangel in der welschen Schweiz akuter
Eine Journalistin will wissen, welche Regionen besonders stark vom Lehrermangel betroffen sind. «Solche Zahlen fehlen, weil die Kantone zurückhaltend sind, was die Veröffentlichung von Angaben betrifft», so Rösler. Grundsätzlich aber habe die welsche Schweiz weniger Probleme, während die Kantone Bern und Aargau mehr Mühe haben.
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10.30 Uhr
Schwendimann: «Lernen findet innerhalb und ausserhalb des Schulzimmers statt»
Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogische Arbeitsstelle LCH kommt nun auf die Kosten von Ausflügen und Klassenlager zu sprechen. Schulisches Lernen finde innerhalb und ausserhalb des Schulzimmers statt, betont Schwendimann. Diese Erfahrungen ausserhalb des Klassenzimmers seien essenziell, sie gehörten zur Grundausbildung. Diese müsse laut Verfassung unentgeltlich sein, darum seien die Verantwortungsträger verantwortlich, dass diese Kosten nicht auf die Eltern abgewälzt würden. Der Lehrer*innenverband setze sich für vergünstigte Tickets für Klassen ein, damit die Kinder den Umgang mit dem öV lernten. Sie begrüssten darum die Vorstösse in der Politik. Das grosse Ziel sei jedoch das «Fünfliber-Billett», die aktuellen Anstösse seien noch nicht ausreichend.
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10.25 Uhr
Viel Unverständnis während der Pandemie
Olivier Solioz, Vizepräsident SER, spricht über die Handhabung der Coronapandemie aus Sicht der Schulen. Geht es nach ihm, hätten die Lehrer*innen stärker in die Entscheidungsfindungen eingebunden werden sollen.
«Die Schulen waren der einzige Ort in der Schweiz, in denen die Regeln nicht gleich waren für 12-Jährige und die Erwachsenen. Dies sorgte für viel Unverständnis.»
Auch sollen die Behörden gesetzliche Grundlagen erarbeiten, damit die Kantone künftig besser zusammenarbeiten.
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10.22 Uhr
Antoinette Killias fordert mehr Ressourcen für Schulpsychologie
Antoinette Killias, Geschäftsführerin des Verbands LCH, spricht nun über die Herausforderung mit den Kindern aus der Ukraine. «Es ist in der Tat keine gänzlich neue Aufgabe, die die Schulen hier zu meistern haben», sagt sie. Schulleiter*innen und Lehrpersonen würden alles dafür tun, um ein gutes Umfeld für die Kinder zu schaffen, damit sie sich wohlfühlen. Es habe sich bewährt, auf unterschiedliche Settings zu setzen. Nicht überall sei es sinnvoll, die Kinder gleich in die Regelklasse zu integrieren, teilweise seien Integrationsklassen sinnvoll, in denen die Kinder für den halben Tag Deutsch lernen. «Die Integration in die Schule gibt den Kindern Stabilität», jedoch brauche es mehr Ressourcen für die Schulpsychologie, um mögliche Traumata aufzufangen.
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10.18 Uhr
Wenig ausgebildete Lehrer bergen Tücken
Nun ergreift David Rey, Vorstandsmitglied SER, das Wort. «Jede Lehrperson muss auf eine fundierte Bildung zählen können. Die Idee, dass Lehrpersonen nicht ausreichend ausgebildet sein müssen, hat Tücken», sagt er. So würden die qualifizierten Lehrpersonen übermässig belastet, weil sie den unerfahrenen unter die Arme greifen müssen.
Man müsse den Lehrerberuf wieder attraktiv machen, um junge Menschen zu motivieren, diesen zu ergreifen. Hier sollen auch Mentorate helfen, dass Junglehrer*innen besser mit dem Druck umgehen können.
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10.13 Uhr
Rösler über die Perspektive der Eltern: «Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen»
Zusätzlich käme der Druck vonseiten der Eltern. «Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen», sagt Dagmar Rösler, wenn sie wüsste, dass ihre Tochter von nicht qualifiziertem Personal unterrichtet würde. So würde es wohl vielen Eltern in der ganzen Schweiz gehen. Die Kinder hätten Anrecht auf eine adäquate Bildung. Besonders jene, die spezielle Betreuung benötigten, bräuchten gut ausgebildete Lehrpersonen.
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10.11 Uhr
Teams können Ausfälle selbst nicht stopfen
«Die Lücken sind so gross geworden, dass sie nicht mehr zu stemmen sind innerhalb des Teams», obwohl das Engagement innerhalb der Schulen, Lösungen zu finden, gross sei. Dies sorge zudem für Überlastung bei den engagierten Lehrpersonen.
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10.09 Uhr
Rösler: Durch Notlösung wird Lehrerberuf abgewertet
In einigen Kantonen würden politische Vorstösse laufen, die eruieren wollen, wie viele Personen ohne adäquate Ausbildung vor Klassen stehen würden. In Bern seien es rund 10 Prozent, sagt Rösler. Es bestehe das Risiko, dass durch diese Notlösung die Ausbildung abgewertet würde.
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10.08 Uhr
«Von Bildung kann man teilweise nicht mehr sprechen»
Zwar habe sich der Personalmangel in gewissen Regionen ein wenig entschärft, man müsse jedoch bedenken, dass Stellen teilweise auch durch nicht ausreichend qualifizierte Personen besetzt würden. Man sei nach wie vor mit Hochdruck auf der Suche nach Lehrpersonen. Mit Notlösungen könne man die Betreuung der Kinder sicherstellen, «von Bildung kann man teilweise nicht mehr sprechen».
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10.06 Uhr
Rösler: «Der Personalmangel ist eklatant»
Als Erstes kommt Präsidentin Dagmar Rösler auf den Personalmangel zu sprechen, dieser sei «eklatant». «Es ist auch im neuen Schuljahr ein sehr wichtiges Thema, welches uns stark beschäftigt», sagt Rösler. «Die Bildungsqualität ist in Gefahr», der Mangel habe sich noch akzentuiert, wegen Pensionierungen und den steigenden Schülerzahlen. «Die Lehrerschaft badet aus, was man so lange versäumt hat.» Die Attraktivität des Berufes müsse gesteigert werden.
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10 Uhr
Die Medienkonferenz beginnt
Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen- und Lehrer Schweiz Dagmar Rösler begrüsst die Medienschaffenden und stellt die Anwesenden vor und klärt organisatorische Fragen.
Vertretende der Lehrerschaft
- Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands Lehrerinnen- und Lehrer Schweiz (LCH)
- Antoinette Killias, Geschäftsführerin LCH
- Dr. Beat A. Schwendimann, Leiter Pädagogische Arbeitsstelle LCH
- David Rey, Präsident des Syndicat des enseignantes et enseignants de Suisse romande (SER)
- Olivier Solioz, Vizepräsident SER
- Pierre-Alain Porret, Vorstandsmitglied SER