Debatte über PflegeinitiativePflegende beklagen «Überstunden en masse»
SDA/tmxh
29.9.2021
Die Situation in der Pflege ist angespannt – was kann der Bund tun? Vor der Abstimmung über die Pflegeinitiative am 28. November wurde im Nationalrat erhitzt debattiert.
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29.09.2021, 12:02
29.09.2021, 12:25
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Braucht die Pflege einen neuen Verfassungsartikel oder Lösungen auf Gesetzesebene? Über diese Frage hat am Mittwoch der Nationalrat diskutiert. Die Debatte über die angespannte Situation in der Pflege glich zeitweise einem Abstimmungspodium.
Am 28. November nämlich können Volk und Stände über die Pflegeinitiative abstimmen. In beiden Räten hatte eine Mehrheit die Volksinitiative zur Ablehnung empfohlen. Stattdessen wurden neue Regeln auf Gesetzesstufe verabschiedet. Diese treten in Kraft, wenn die Initiative abgelehnt wird. Die Initianten zeigten sich jedoch nicht zufrieden mit dem indirekten Gegenvorschlag, weswegen sie die Initiative nicht zurückgezogen haben.
Entsprechend weibelten am Mittwoch im Nationalrat SP, Grüne und GLP für die Annahme der Initiative. Es gebe viele Forderungen, die im indirekten Gegenvorschlag nicht aufgenommen seien, sagte etwa Melanie Mettler (BE) im Namen der GLP. Elementar sei etwa die richtige Personaldotation, also eine passende Quote von Patienten pro Pflegende. Wegen der Arbeitsbedingungen steige fast die Hälfte der Ausgebildeten innerhalb der ersten fünf Berufsjahre wieder aus.
Unklar, wie viele wegen Corona weg sind
Auch wegen der Corona-Krise haben Fachkräfte den Beruf verlassen. Es könne nur geschätzt werden, wie viele Personen es seien, sagte Barbara Gysi (SG) dazu im Namen der SP-Fraktion. Pflegende berichteten von «Überstunden en masse» und davon, dass die Pflegenden beim Blick aufs Handy nie wüssten, ob sie noch einspringen müssten. Die Freizeit werde massiv tangiert.
Léonore Porchet (VD) sagte im Namen der Grünen, dass zum Beispiel zehn Prozent weniger Pflegepersonal eine um sieben Prozent höhere Sterberate zur Folge habe. Man müsse mehr investieren, als im Gegenvorschlag vorgesehen sei. Der indirekte Gegenvorschlag reiche schlicht nicht. Es müssten auch Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen getroffen werden.
Kantone haben Fähigkeit bewiesen
Das sehen FDP und Mitte anders. Die Arbeitsbedingungen liegen aus ihrer Sicht nicht in der Zuständigkeit des Bundes. Es seien die Kantone, die die Spitalpläne erstellten, sagte Philippe Nantermod (VS) im Namen der FDP. Sie seien es auch, die die Löhne bestimmten, die Arbeitsbedingungen und das Gesundheitssystem organisierten. Die Kantone hätten gerade auch in der Krise gezeigt, dass sie fähig seien, ein funktionierendes Gesundheitssystem zu gewährleisten, beispielsweise mit den «effizienten Impfkampagnen».
Das Gesundheitswesen sei ganz klar eine Kompetenz der Kantone, sagte auch Ruth Humbel (AG) im Namen der Mitte. Für die Probleme, die von Bund und Kantonen angegangen werden müssten, lägen mit dem indirekten Gegenvorschlag Lösungen auf dem Tisch. Stellenschlüssel und Arbeitsbedingungen seien aber nicht Teil davon. Diese Aspekte gehörten auf Kantonsebene.
Es laufe ein Schwarz-Peter-Spiel, sagte Manuela Weichelt (ZG) im Namen der Grünen zu dieser Diskussion über die Zuständigkeiten. Der Bundesrat schiebe die Verantwortung auf die Kantone und die Gesundheitsinstitutionen ab, und die Kantone ihrerseits schöben diese ebenfalls auf die Gesundheitsinstitutionen ab.
Taube statt Spatz
Die SVP wiederum, die auch den indirekten Gegenvorschlag unterstützt, kritisierte die Forderungen nach mehr Staat. Zur Lösung der Probleme würden mehr Staat, mehr Vorschriften, mehr Regulierung gefordert, sagte Martina Bircher (AG). Damit werde das System aber teurer, und nicht besser, sagte sie. Es brauche nicht mehr Staat, sondern mehr Pflegekräfte.
Die Notwendigkeit zum Handeln sei ja unbestritten, ergänzte Parteikollege Albert Rösti (BE). Nur forderten die Linke und die Mitte mit der Annahme der Pflegeinitiative die Taube auf dem Dach, «während wir den Spatz in der Hand hätten». Denn «mit der Initiative haben wir nichts in der Hand, nur einen schönen Verfassungsartikel». Die Arbeit beginne dann wieder von vorne. Im Gegenvorschlag jedoch sei «ja alles drin».
Stärkster Vorschlag seit langer Zeit
Die Schweiz braucht bis im Jahr 2030 bis zu 70'000 zusätzliche Pflegekräfte. Rund zehntausend Stellen sind schon heute nicht besetzt. Gesundheitsminister Alain Berset sagte im Rat, dass die Herausforderungen in der Pflege tatsächlich nicht erst mit der Pandemie aufgekommen seien. Wichtig sei jetzt, die richtigen Schlüsse aus der Krise zu ziehen, um in Zukunft besser auf solche Situationen reagieren zu können.
Nicht nur solche Krisen seien jedoch eine Herausforderung. Auch die Demografie wirke sich negativ aus. Es gebe zudem mehr chronische und multiple Erkrankungen, sagte Berset. Der Gegenvorschlag sei aber einer der stärksten Vorschläge zur Verbesserung der Situation im Pflegewesen der vergangenen Jahre.