SBB-Überwachungspläne «Passanten in den Bahnhöfen werden zu Milchkühen degradiert»

Von Gil Bieler

18.2.2023

Wer geht wohin – und gibt wo wie viel Geld aus? Das wollen die SBB an grösseren Bahnhöfen – im Bild Bern – genauer analysieren.
Wer geht wohin – und gibt wo wie viel Geld aus? Das wollen die SBB an grösseren Bahnhöfen – im Bild Bern – genauer analysieren.
Keystone/Christian Beutler

Die SBB wollen Passantinnen und Passagiere an den Bahnhöfen künftig auf Schritt und Tritt überwachen. Ein Horrorszenario, sagt der Chef der Piratenpartei. Und auch der Datenschützer meldet Bedenken an. 

Von Gil Bieler

«Erschreckend.» Mit diesem Wort fasst Jorgo Ananiadis seine ersten Gedanken zu den diese Woche publik gewordenen Überwachungsplänen der SBB zusammen. «Passantinnen und Passanten in den Bahnhöfen werden zu Milchkühen degradiert, aus denen die SBB so viel Geld wie möglich herausquetschen wollen», sagt Ananiadis. Der Berner arbeitet im Bereich Cybersicherheit und ist Präsident der Piratenpartei Schweiz, die einen Schwerpunkt auf digitale Themen legt.

Seit der «K-Tipp» diese Woche über neue Überwachungspläne der SBB berichtet hat, ist eine Debatte darüber entbrannt. Dem Bericht zufolge wollen die SBB grössere Bahnhöfe mit Kameras zur Gesichtserkennung ausrüsten. So wolle man das Verhalten von Passagier*innen an den Bahnhöfen genauer analysieren – bis ins Portemonnaie.

Diese Fragen stehen im Zentrum des Projekts:

  • Wie lange hält sich jemand am Bahnhof auf?
  • Auf welchen Wegen bewegt sich eine Person durch den Bahnhof?
  •  Welche Läden und Kioske besuchen die Passagiere?
  • Wie viel Geld gibt jemand wo aus? Bewegungsdaten sollen dafür mit den Daten der Ladenkassen verknüpft werden.
  • Auch sollen Angaben zu Alter, Geschlecht, Grösse und mitgeführten Gegenständen wie Velo oder Kinderwagen erfasst werden.

Was die SBB damit bezwecken? Die sogenannte «Abschöpfungsrate» soll erhöht werden, wie es im Ausschrieb zum Projekt «KundenFrequenzMessSystem 2.0» heisst. Das heisst: Der Umsatz pro Passant*in soll gesteigert werden, was sich in höheren Ladenmieten auch für die SBB auszahlen könnte.

Natürlich haben die SBB den Datenschutz nicht vergessen: Die erhobenen Bewegungsprofile sollen anonymisiert gespeichert werden, keine Rückschlüsse auf einzelne Personen sollen möglich sein. Auch sei keine Verknüpfung der Bezahldaten mit SwissPass oder anderen Services geplant.

«Solche Versprechen gibt es immer wieder, doch wie zahllose Vorfälle aus der Vergangenheit gezeigt haben, werden sie kaum je eingehalten», sagt Jorgo Ananiadis. Die Schweiz habe im internationalen Vergleich ohnehin schwammige Datenschutzgesetze. «Ausserdem gab es genügend Hacks und Leaks, die gezeigt, haben, dass der Schutz von persönlichen Daten ausgehebelt werden kann.» Und weiter: «Ich gehe davon aus, dass auch bei den SBB-Daten ein Missbrauch passieren würde. Ganz klar.»

Das sieht der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte ähnlich: Es bestehe «das potenziell hohe Risiko, dass es zu unerwünschten Rückschlüssen auf einzelne Personen kommen könnte», schreibt Silvia Böhlen, Kommunikationsbeauftragte des Datenschützers, auf Anfrage.

Aus diesem Grund müssten die SBB eine sogenannte Risikofolgenabschätzung vorlegen. Darin müssten die Bahnen aufzeigen, «mit welchen technischen und organisatorischen Massnahmen die potenziell hohen Risiken des Projekts gesenkt werden können». Erst dann könne der Datenschützer das Projekt konkret beurteilen.

Welches Unternehmen diese Überwachung für die SBB vornimmt, ist noch offen. Die Ausschreibung läuft, der Startschuss ist aber am Bahnhof Schaffhausen vorgesehen. Am Ende sollen Gesichtserkennungs-Kameras an 57 Bahnhöfen eingesetzt werden.

Braucht es unbedingt eine Gesichtserkennung?

Was aber könnten Kriminelle mit Bewegungs- und Bezahldaten überhaupt anfangen? Konkrete Szenarien nennt der Piratenpartei-Chef nicht. «Aber je mehr Daten erhoben und gespeichert werden, desto grösser ist die Missbrauchsgefahr.» Was ihn besonders besorgt: Bei der Gesichtserkennung würden besonders sensible biometrische Daten erhoben.

«Man muss sich schon fragen, ob das für einen Anbieter im öffentlichen Verkehr anstrebenswert ist – nur, um den Umsatz zu steigern.» Er sei kein Marketing-Experte, aber glaube, dass das erhoffte Ziel, die Bewegungen von Personen in den Bahnhöfen zu verfolgen, auch ohne Gesichtserkennung zu erreichen wären.

Ob dies der Fall ist, kann SBB-Mediensprecherin Sabrina Schellenberg auf Anfrage von blue News nicht beantworten. Die Ausschreibung sei noch im Gange. Sie verweist auf eine generelle Stellungnahme zu den Medienberichten der letzten Tage.

Darin heisst es, die SBB seien mit dem Eidgenössischen Datenschützer in Austausch. «Es wird nichts beschafft und eingesetzt, dass nicht datenschutzkonform ist.» Man werde «sämtlichen Forderungen des Datenschutzbeauftragten vor Einführung des neuen Systems nachkommen».

Ausserdem wird in dem Statement festgehalten, dass die SBB «bereits heute ein Kundenfrequenz-Messsystem im Einsatz» hätten. Gemäss Ausschreibung ist dies in 27 Bahnhöfen der Fall. Der Grad der Überwachung variiert, ist aber am Bahnhof Genf Eaux-Vives und Zürich-Stadelhofen am höchsten. «Das neue Messsystem soll Gleiches leisten, aber aufgrund neuer technischer Möglichkeiten mit einer besseren Qualität und in einem höheren Detaillierungsgrad.»

Nur der erste Schritt?

Ob die Kund*innen der SBB einer solchen Überwachung explizit zustimmen müssten, ist offen. «Wir gehen aufgrund des heutigen Kenntnisstands davon aus, dass die SBB ihre Bearbeitung auf andere Rechtfertigungsgründe als die explizite Zustimmung abstützen dürften», erklärt Sabine Böhlen vom Büro des Datenschützers. Ob dies zulässig sein werde, hänge aber von der konkreten Umsetzung des Projekts ab.

Jorgos Ananiadis hofft, dass die Ausschreibung ein Misserfolg wird und die SBB das Projekt von sich aus wieder einstellen. Doch falls es zustande komme, rechnet er bereits mit weiteren Schritten zur Überwachung: «Am Ende werden Besucherinnen und Besucher der Bahnhöfe speziell auf sie zugeschnittene Aktionen oder Rabattcoupons aufs Smartphone erhalten.»

Ähnliches war mit den Beem-Kästchen auf Plakatwänden am Zürcher Hauptbahnhof geplant, die 2019 zu reden gaben. Damit hätten Handy-Nutzer*innen gezielt angesteuert werden sollen. Die Swisscom – die hinter dieser Technologie steckte – stellte das Projekt am Ende wieder ein.

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