Ukraine-Konferenz«Einige sagen im Tessin, es sei ein vergiftetes Geschenk»
Von Gil Bieler und Paolo Beretta
29.6.2022
In Lugano wird erstmals Weltpolitik gemacht, im Vorfeld ist aber vor allem Kritik an der Ukraine-Konferenz zu hören. Regierungsrat Norman Gobbi zeigt Verständnis – weiss aber immer noch nicht, welche Politiker anreisen.
Von Gil Bieler und Paolo Beretta
29.06.2022, 14:33
29.06.2022, 14:52
Gil Bieler und Paolo Beretta
Herr Gobbi, in unserem letzten Gespräch sagten Sie, der Ukraine-Gipfel werde eine Herausforderung, weil es in Lugano noch nie einen solchen politischen Grossanlass gab. Was ist die grösste Herausforderung bei der Durchführung?
Für die Stadtbevölkerung wird die Mobilität eine Herausforderung sein. Entlang des Lunganersees wird es aus Sicherheitsgründen eine Verkehrssperre geben, und schon heute ist die Verkehrssituation in Lugano – wie in allen Städten – kompliziert. Für den Kanton ist natürlich die Sicherheitsfrage zentral, und die grosse Herausforderung ist, dass wir die definitive Liste mit den Konferenzteilnehmern noch nicht erhalten haben. Das ist eine Variable, die das ganze Sicherheitsdispositiv beeinflusst.
Bis wann erhalten Sie die Liste mit den Teilnehmenden?
In den nächsten Tagen sollte das Eidgenössische Aussendepartement (EDA) die Liste zusammenstellen.
Das heisst, Sie wissen auch noch nicht, ob der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kommen wird?
Das ist mir noch nicht bekannt.
Ist die Konferenz ein Geschenk von Bundesrat Ignazio Cassis an das Tessin?
Ach, die Schweiz hat immer schon Geschenke an Genf gemacht. Ich erinnere an die Millionenbeträge, die der Bund alljährlich dem Kanton Genf für dessen Bedeutung als internationale Stadt bezahlt.
Sie widersprechen aber nicht, dass die Konferenz auch ein Geschenk ist?
Einige sagen im Tessin, es sei ein vergiftetes Geschenk. Es gebe viele Herausforderungen, und ein Teil der Stadt werde blockiert. Ich dagegen sage, es ist auch eine Gelegenheit zu zeigen, dass der Kanton Tessin imstande ist, eine solche internationale Konferenz zu organisieren und durchzuführen.
Stadtrat Filippo Lombardi erwarte von der Konferenz wenig Substanzielles, er glaubt, diese habe mehr symbolischen Wert. Sind Sie diesbezüglich optimistischer?
Ich bin kein Aussenpolitiker, sondern für die Sicherheit zuständig. Für mich ist entscheidend, dass alles wie geplant abläuft. Die politische Dimension ist Sache des Bundesrats und des Aussendepartements. Aber natürlich, der Krieg ist immer noch im Gange, und die Bedürfnisse der Ukraine liegen mehr im Bereich der Waffenlieferungen als beim Wiederaufbau.
Im selben Interview meinte Lombardi, die Tessiner interessierten sich mehr für die Einschränkungen in ihrem Alltag als für die Weltpolitik. Was werden sie nebst den Strassensperren zu spüren bekommen?
Ich mache immer den Vergleich zu Davos. Davos wird jedes Jahr für das Weltwirtschaftsforum gesperrt, und weder die Bevölkerung noch die Touristen haben Freude daran. Das wird in Lugano gleich sein: Die Menschen kommen nicht in die Stadt, weil hier Kongresse abgehalten werden, sondern weil Lugano ein wunderschöner Ort ist.
SVP-Parteichef Marco Chiesa sagte in einem Interview, er sehe keinen Sinn in der Durchführung der Konferenz. Freuen sich die Tessiner überhaupt?
Wie gesagt, es ist eine Chance. Wir wollen auch nicht so weit gehen wie Genf im letzten Jahr, als sich US-Präsident Joe Biden und der russische Präsident Wladimir Putin trafen. Einige Anwohner durften damals ja nicht einmal die Rollläden öffnen, ganze Strassen wurden gesperrt. So etwas wird es bei uns nicht geben. Vielleicht werden einige Arbeitgeber zu Homeoffice raten, weil Probleme mit der Mobilität zu erwarten sind, aber das werden wir sehen.
Ignazio Cassis: «Selenskyj wird dabei sein»
Anfang Juli blickt die Welt nach Lugano, genauer: auf die internationale Ukraine-Konferenz. Welche Ziele sollen erreicht werden, und wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auch teilnehmen? Bundespräsident Ignazio Cassis antwortet.
20.06.2022
Der Stadtpräsident von Lugano, Michele Foletti, findet, seine Wunschlösung wäre es, wenn die Staats- und Regierungschefs erst am Dienstag anreisen – damit es keine Probleme mit der Beherbergung gebe. Ist das so geplant?
Das wird gestaffelt passieren: Ein Teil wird am Sonntag anreisen, ein Teil am Montagmorgen.
Wie erklären Sie sich, dass es im Vorfeld so viel Kritik gibt?
Ich hoffe einfach, dass im Rückblick eine positive Einstellung überwiegt. Es gibt ja auch positive Effekte, etwa die grosse Visibilität weltweit. Die Konferenz wird am Luganersee stattfinden, eine der schönsten Ecken der Stadt, und diese Bilder werden Menschen rund um die Welt sehen. Davon erhoffe ich mir auch einen touristischen Nutzen, ähnlich wie bei der Tour de Suisse.
Soweit ich weiss, wurden Anträge für ein paar kleinere Standaktionen eingereicht. Aber ob diese bewilligt wurden, weiss ich nicht.
Das Tessin, aber auch Lugano, ist ein wichtiger Standort der Rohstoffbranche. Auch russische Unternehmen sind hier tätig. Führt die Konferenz zu Problemen mit den Russen?
Das glaube ich nicht. Interessanterweise sehen wir im Tessin seit dem Kriegsbeginn keine Spannungen zwischen Russen und Ukrainern, obwohl beide Bevölkerungsgruppen gut vertreten sind. Schon vor dem Krieg waren 1200 Russen im Tessin wohnhaft und 800 Ukrainer, vor allem im Südtessin, zwischen Lugano und Chiasso. Dennoch gab es nie Probleme.
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