Autodemo am Samstag und «gesundheitsverträgliche» Kampagnen: Trotz offizieller Absage der 1.-Mai-Feier rufen Linksautonome zu Aktionen auf. Über mögliche Verhinderungsversuche schweigt man bei der Polizei.
Seit genau 130 Jahren wird der Tag der Arbeit in der Schweiz gefeiert. Normalerweise organisieren die Gewerkschaften am 1. Mai mehrere Dutzend Veranstaltungen und Demonstrationen. Die grösste Versammlung findet jeweils in Zürich statt – nicht so dieses Jahr. Aufgrund der Corona-Krise haben der Zürcher Gewerkschaftsbund (GBKZ) und das Zürcher 1.-Mai-Komitee entschieden, die politischen Veranstaltungen abzusagen.
Gemäss einer entsprechenden Mitteilung von Ende März ist die Absage auch eine Frage des Respekts für Beschäftigte im Gesundheitswesen, in der Reinigung, im Lebensmittelverkauf und anderen Tieflohnberufen. Diese Menschen würden sich jetzt als unverzichtbar erweisen.
Anders tönt es in Bern. Die Gruppierung Revolutionäre 1.-Mai-Bündnis Bern ruft auf den sozialen Medien dennoch zur Demonstration am Tag der Arbeit auf. «In Zeiten von Corona und den Massnahmen dagegen muss auch die revolutionäre 1.-Mai-Kampagne dieses Jahr gezwungenermassen unkonventionelle Wege gehen», heisst es auf Facebook.
Aufruf zum 1. Mai in Bern
Trotz der momentanen Pandemie habe man sich für einen Aufruf zum 1. Mai entschieden – denn die weltweite Corona-Krise enttarne das herrschende System mit all seinen Konsequenzen in neuer Deutlichkeit. «Es entlarvt sich als brüchiges, nur nach Profit strebendes und vor allem als menschenfeindliches System.»
Das 1.-Mai-Bündnis Bern ruft deshalb zu «dezentralen, kreativen, gesundheitsverträglichen und dennoch kämpferischen Kampagnen» auf. Wie diese konkret aussehen sollen, bleibt vorerst ungewiss.
Reto Nause, Sicherheitsdirektor der Stadt Bern, sagt auf Anfrage von «Bluewin», man habe Kenntnis von diesem Aufruf. «Für uns sind die Vorgaben des Bundes entscheidend.» Die Rahmenbedingungen würden dann von der Stadt Bern umgesetzt – unabhängig von den Botschaften der Demonstrierenden und der Gruppierung, die zum Protest aufrufe. Wie dies geschehen soll, will Nause nicht preisgeben.
Autodemo als unkonventionelle Protestform in Zürich
Auch bei der Stadtpolizei Zürich hält man sich bezüglich des Vorgehens bei möglichen Demonstrationen bedeckt. «Wir geben unseren Kenntnisstand nicht über die Medien bekannt», sagt Sprecher Michael Walker. Über mögliche Interventionen oder Verhinderungsversuche von Aktionen gibt es ebenfalls keine Auskunft.
Fest steht: Um ihre Anliegen auf der Strasse kundzutun, greifen linksautonome Kreise nicht nur in Bern derzeit auf unkonventionelle Demonstrationsformen zurück. Am kommenden Samstag etwa findet in Zürich eine Autodemonstration statt, um auf die Situation geflüchteter Menschen aufmerksam zu machen.
Auf Schutzmassnahmen sollte dennoch nicht verzichtet werden, teilen die Organisatorinnen und Organisatoren per Facebook-Beitrag mit. «Uns ist es wichtig, dass wir diese einhalten. Kommt daher mit maximal fünf Personen pro Auto, bleibt in den Autos drin und bildet Gruppen mit Menschen, mit denen ihr sowieso schon in Kontakt seid.»
Juso-Präsidentin: «Sicherheit der Menschen geht vor»
Juso-Präsidentin Ronja Jansen hätte am 1. Mai eine Rede halten sollen. Sie geht davon aus, dass diese nicht planmässig stattfinden kann. «Die ersten Lockerungen der Corona-Massnahmen sollen fünf Tage vor dem 1. Mai erfolgen. Es muss deshalb sehr vorsichtig geprüft werden, welche Protestaktionen zu diesem Zeitpunkt möglich sind.»
Die grosse Mehrheit der üblichen Kundgebungen werde wohl abgesagt oder in veränderter Form durchgeführt. «Natürlich wäre es aus unserer Sicht wünschenswert, wenn physische Formen des Protests zulässig wären, aber die Sicherheit der Menschen geht klar vor», so Jansen.
Sie rechne mit zahlreichen Alternativangeboten, etwa im Online-Bereich, da es nichtsdestotrotz wichtig sei, auf die 1.-Mai-Forderungen aufmerksam zu machen – und: «Die Krise hat nur noch stärker gezeigt, welchem finanziellen Druck ein Grossteil der Bevölkerung ausgesetzt ist und welche Folgen die Profitlogik im Gesundheitswesen hat.»
Auch in Corona-Zeiten: «Wir werden nicht schweigen!»
Trotz Veranstaltungsabsage kündigt denn auch das Zürcher 1.-Mai-Komitee an: «Wir werden nicht schweigen!» Man habe es sich immer zur Aufgabe gemacht, den Blick über den lokalen und eigenen Tellerrand hinaus zu richten, heisst es auf der Website. «Es ist uns bewusst, dass mit dem Kampf gegen die Corona-Krise nicht sämtliche anderen gesellschaftlichen und sozialen Kämpfe verschwunden sind.»
Für das 1.-Mai-Komitee sei deshalb klar: Der 1. Mai werde stattfinden, einfach in einem anderen Rahmen – und ohne, dass die Demonstrierenden sich alle treffen würden. Es werde geprüft, wie die politischen Inhalte, Diskussionen und Informationen verbreitet werden könnten.
Diese Bücher empfiehlt die «Bluewin»-Redaktion für den Corona-Lockdown:
Auch in der «Bluewin»-Redaktion wird fleissig gelesen. In der Bildstrecke gibt Sie einen Einblick in ihre Lieblingsbücher.
Bild: Istock
Julia Käser empfiehlt: «Vom Ende der Einsamkeit» von Benedict Wells
Weil es um Einsamkeit geht, mit der im Moment alle von uns mal mehr, mal weniger zu kämpfen haben. Und weil es von einer – wenn auch etwas schweren – Selbstfindungsreise handelt, wie wir sie heute kaum mehr vor Augen geführt bekommen: Hadernd, verletzlich, schonungslos und trotzdem oder gerade deshalb irgendwie tröstend.
Jennifer Furer empfiehlt: «Du musst nicht von allen gemocht werden» von Ichiro Kishimi
Wir alle kämpfen mit Selbstzweifel. Dieses Buch zeigt eindrücklich, wieso jeder in der Lage ist, über sein eigenes Leben zu bestimmen. Es führt einem vor Augen, wie sehr Selbstzweifel von Erfahrungen und Erwartungen abhängen. Anhand eines Dialoges zwischen einem unglücklichen jungen Mann und einem Philosophen wird erklärt, wie man sich davon lösen kann. Der Dialog basiert auf den Erkentnissen von Alfred Adler - dem grossen Vorreiter der Achtsamkeitsbewegung.
Tobias Bühlmann empfiehlt: «Picknick auf dem Eis» von Andrej Kurkow
Eigentlich lese ich kaum Belletristik. Dieses Buch habe ich angefasst, weil es mir ein Bekannter vor bald zwei Jahrzehnten in die Hand gedrückt hat mit dem Kommentar, dass das Büchlein das frischeste sei, was er seit langem gelesen habe. Die Geschichte handelt vom Autoren Viktor, der sich mit seinem Pinguin Mischa in Viktor durchschlägt. Er verdient sein Geld mit dem Schreiben von Nachrufen bekannter Menschen. Ich habe das Buch noch am selben Abend bei Kerzenlicht – meinem Gästezimmer fehlte eine Nachttischlampe – zu lesen begonnen. Und beinahe in einem Rutsch durchgelesen
Bild: Keystone/Markus Stuecklin
Bruno Bötschi empfiehlt: «Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß» von Manja Präkels
Eine gute Freundin von mir, wollte dieses Buch nicht kaufen – der Titel schreckte sie zu sehr ab. Schade. In ihrem aus dem Autobiografischen schöpfenden Roman «Als ich mit Hitler Schnapskirschen ass» erzählt die ostdeutsche Schriftstellerin und Musikerin Manja Präkels (Jahrgang 1974) von der Kindheit in der DDR, von der Idylle in einer Kleinstadt, von Freundschaft und Wut. Die Geschichte beginnt harmlos – bis aus Freunden irgendwann Gegner werden: Hauptfigur Mimis Jugendfreund Oliver, mit dem sie früher heimlich Mutters Schnapskirschen ass, nennt sich plötzlich Hitler und führt eine braune Jugendgang. Immer mehr Hässliches kommt zum Vorschein. Ich mag die Sprache von Manja Präkels, sie ist direkt und schnörkellos, nichts bleibt im Verborgenen.
Markus Wanderl empfiehlt: «Der erste Sohn» von Philipp Meyer
Philipp Meyers Generationen-Epos «Der erste Sohn» ist bereits 2014 erschienen, es ist die Geschichte einer texanischen Familien-Dynastie. Fotorealistisch im Stil und minutiös recherchiert wirft Meyer einen Argusaugenblick auf die mitunter blutige Fehde zwischen Indianern, Texanern und Mexikanern. Er ist so gut, dieser Roman des 46-jährigen New Yorkers – sodass unbedingt gefragt werden muss: Wann kommt endlich Meyers dritter Roman?
Philippe Dahm empfiehlt: «Born a Crime» von Noah Trevor
Ich lese gerade «Born a Crime», die Autobiographie von Trevor Noah, dem Gastgeber der New Yorker «Daily Show». Der TV-Moderator wurde in Johannesburg als Sohn eines Schweizers und einer Südafrikanerin geboren – was damals ein Verbrechen war, weil Schwarze und Weisse keinen Verkehr und erst Recht keine Kinder miteinander haben durften...
... Noah bringt einem auf unterhaltsame Weise nahe, was es heisst, in seinem Unrechtssystem aufzuwachsen und erzählt mit einem lachenden Auge, was Armut in Soweto bedeutet, ohne dass sich der Leser dabei schlecht fühlt. Die persönlichen Anekdoten machen das Buch kurzweilig – den Tipp dazu habe ich übrigens von meinem zuverlässigen Kollegen Gil Bieler bekommen. Danke dafür, Gil, du bekommst das Buch irgendwann auch wieder zurück.
Gil Bieler empfieht: «Die Strasse» von Cormac McCarthy
Ein fesselnder Roman: Vater und Sohn schleppen sich nach der Apokalypse durch eine lebensfeindliche Welt. Getrieben von Hunger und Elend, klammern sie sich an den letzten Funken Hoffnung, dass es irgendwo, irgendwann besser wird. McCarthy legt wahrlich keine schöne Geschichte vor, aber eine, die mitten ins Herz trifft.
Carlotta Henggeler empfiehlt: «Verficktes Herz & andere Geschichten» von Nora Gantenbrink
Mit Büchern geht es mir manchmal wie mit Wein. Ich suche den Tropfen anhand der Etikette aus. Total doof, aber das Auge entscheidet oft mit. Und genauso ist es mir mit «Verficktes Herz» von Nora Gantenbrink ergangen. Ein spezieller Titel, ein popig-auffälliges Neon-Herz auf dem Cover. Bäm, schon hatte ich die EC-Karte gezückt. Und bereue es keine Minute. Die Kurzgeschichten rund ums Thema Herzschmerz sind grell, virtuos und jeder Satz hat ein eigenes Aroma, das lange nachklingt. Man sollte es peu à peu lesen, um den Genuss hinauszuzögern, genau wie ein Grand-Cru. Muster gefällig? ...
...Voilà: «Liebeskummer ist das grösste Arschloch, das es gibt. Und das Problem ist, dass es so ein unlösbares Problem ist. Dass du ja nichts dagegen tun kannst. Ausser warten. Die Lösung des Problems ist also: Das Warten muss gut sein, verdammt gut. Im Warten braucht es Yoga, braucht es Rausch, braucht es gute Geschichten und noch bessere Kurzgeschichten.»
Und zum Schluss gibt es noch einen zweiten Buchtipp von Julia Käser: «Wir sehen uns am Meer» von Dorit Rabinyans
Weil es ein mutiges Buch ist, das an israelischen Gymnasien gar verboten wurde. Und weil mich die schicksalhafte Liebesgeschichte zwischen einer israelischen Studentin und einem Künstler aus Palästina so berührte, wie es lange kein Buch mehr getan hat – ganz ohne Kitsch.
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