Internetaufrufe «Menschenfeindliches System» –  1.-Mai-Demos trotz Corona? 

Von Jennifer Furer und Julia Käser

15.4.2020

Tausende Menschen demonstrierten letztes Jahr am Tag der Arbeit unter anderem in Zürich. Bilder wie dieses wird es am diesjährigen 1. Mai nicht geben.
Tausende Menschen demonstrierten letztes Jahr am Tag der Arbeit unter anderem in Zürich. Bilder wie dieses wird es am diesjährigen 1. Mai nicht geben.
Keystone

Autodemo am Samstag und «gesundheitsverträgliche» Kampagnen: Trotz offizieller Absage der 1.-Mai-Feier rufen Linksautonome zu Aktionen auf. Über mögliche Verhinderungsversuche schweigt man bei der Polizei.

Seit genau 130 Jahren wird der Tag der Arbeit in der Schweiz gefeiert. Normalerweise organisieren die Gewerkschaften am 1. Mai mehrere Dutzend Veranstaltungen und Demonstrationen. Die grösste Versammlung findet jeweils in Zürich statt – nicht so dieses Jahr. Aufgrund der Corona-Krise haben der Zürcher Gewerkschaftsbund (GBKZ) und das Zürcher 1.-Mai-Komitee entschieden, die politischen Veranstaltungen abzusagen.

Gemäss einer entsprechenden Mitteilung von Ende März ist die Absage auch eine Frage des Respekts für Beschäftigte im Gesundheitswesen, in der Reinigung, im Lebensmittelverkauf und anderen Tieflohnberufen. Diese Menschen würden sich jetzt als unverzichtbar erweisen.

Anders tönt es in Bern. Die Gruppierung Revolutionäre 1.-Mai-Bündnis Bern ruft auf den sozialen Medien dennoch zur Demonstration am Tag der Arbeit auf. «In Zeiten von Corona und den Massnahmen dagegen muss auch die revolutionäre 1.-Mai-Kampagne dieses Jahr gezwungenermassen unkonventionelle Wege gehen», heisst es auf Facebook.

Aufruf zum 1. Mai in Bern

Trotz der momentanen Pandemie habe man sich für einen Aufruf zum 1. Mai entschieden – denn die weltweite Corona-Krise enttarne das herrschende System mit all seinen Konsequenzen in neuer Deutlichkeit. «Es entlarvt sich als brüchiges, nur nach Profit strebendes und vor allem als menschenfeindliches System.»

Das 1.-Mai-Bündnis Bern ruft deshalb zu «dezentralen, kreativen, gesundheitsverträglichen und dennoch kämpferischen Kampagnen» auf. Wie diese konkret aussehen sollen, bleibt vorerst ungewiss.

Reto Nause, Sicherheitsdirektor der Stadt Bern, sagt auf Anfrage von «Bluewin», man habe Kenntnis von diesem Aufruf. «Für uns sind die Vorgaben des Bundes entscheidend.» Die Rahmenbedingungen würden dann von der Stadt Bern umgesetzt – unabhängig von den Botschaften der Demonstrierenden und der Gruppierung, die zum Protest aufrufe. Wie dies geschehen soll, will Nause nicht preisgeben.

Autodemo als unkonventionelle Protestform in Zürich

Auch bei der Stadtpolizei Zürich hält man sich bezüglich des Vorgehens bei möglichen Demonstrationen bedeckt. «Wir geben unseren Kenntnisstand nicht über die Medien bekannt», sagt Sprecher Michael Walker. Über mögliche Interventionen oder Verhinderungsversuche von Aktionen gibt es ebenfalls keine Auskunft.



Fest steht: Um ihre Anliegen auf der Strasse kundzutun, greifen linksautonome Kreise nicht nur in Bern derzeit auf unkonventionelle Demonstrationsformen zurück. Am kommenden Samstag etwa findet in Zürich eine Autodemonstration statt, um auf die Situation geflüchteter Menschen aufmerksam zu machen.

Auf Schutzmassnahmen sollte dennoch nicht verzichtet werden, teilen die Organisatorinnen und Organisatoren per Facebook-Beitrag mit. «Uns ist es wichtig, dass wir diese einhalten. Kommt daher mit maximal fünf Personen pro Auto, bleibt in den Autos drin und bildet Gruppen mit Menschen, mit denen ihr sowieso schon in Kontakt seid.»

Juso-Präsidentin: «Sicherheit der Menschen geht vor»

Juso-Präsidentin Ronja Jansen hätte am 1. Mai eine Rede halten sollen. Sie geht davon aus, dass diese nicht planmässig stattfinden kann. «Die ersten Lockerungen der Corona-Massnahmen sollen fünf Tage vor dem 1. Mai erfolgen. Es muss deshalb sehr vorsichtig geprüft werden, welche Protestaktionen zu diesem Zeitpunkt möglich sind.»

Die grosse Mehrheit der üblichen Kundgebungen werde wohl abgesagt oder in veränderter Form durchgeführt. «Natürlich wäre es aus unserer Sicht wünschenswert, wenn physische Formen des Protests zulässig wären, aber die Sicherheit der Menschen geht klar vor», so Jansen.



Sie rechne mit zahlreichen Alternativangeboten, etwa im Online-Bereich, da es nichtsdestotrotz wichtig sei, auf die 1.-Mai-Forderungen aufmerksam zu machen – und: «Die Krise hat nur noch stärker gezeigt, welchem finanziellen Druck ein Grossteil der Bevölkerung ausgesetzt ist und welche Folgen die Profitlogik im Gesundheitswesen hat.»

Auch in Corona-Zeiten: «Wir werden nicht schweigen!»

Trotz Veranstaltungsabsage kündigt denn auch das Zürcher 1.-Mai-Komitee an: «Wir werden nicht schweigen!» Man habe es sich immer zur Aufgabe gemacht, den Blick über den lokalen und eigenen Tellerrand hinaus zu richten, heisst es auf der Website. «Es ist uns bewusst, dass mit dem Kampf gegen die Corona-Krise nicht sämtliche anderen gesellschaftlichen und sozialen Kämpfe verschwunden sind.»

Für das 1.-Mai-Komitee sei deshalb klar: Der 1. Mai werde stattfinden, einfach in einem anderen Rahmen – und ohne, dass die Demonstrierenden sich alle treffen würden. Es werde geprüft, wie die politischen Inhalte, Diskussionen und Informationen verbreitet werden könnten.


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