Kann das gutgehen? Mehr Infektionen in Schulen, aber Kinder sollen nicht mehr in Quarantäne

Von Andreas Fischer

9.9.2021

Lehrkräfte können Freundschaften zwischen Schülerinnen und Schülern bewusst forcieren, indem sie die Kinder nebeneinander setzen.
Lehrkräfte können Freundschaften zwischen Schülerinnen und Schülern bewusst forcieren, indem sie die Kinder nebeneinander setzen.
Marcel Kusch/dpa

Impfchef Christoph Berger will die Quarantäne für Kinder abschaffen und Masken in den Schulen gleich mit. Seine Forderung stösst bei Eltern auf Ablehnung, wird jedoch von Studien und Kinderärzten gestützt.

Von Andreas Fischer

9.9.2021

«Wir wissen in der Zwischenzeit, dass sich fast alle infizierten Kinder schnell erholen und es ihnen nachher wieder gut geht», sagte Christoph Berger gestern Abend in der «Rundschau» bei SRF. Für den Präsidenten der Schweizer Impfkommission ist es daher nicht nötig, ganze Klassen in Quarantäne zu schicken: «Die Quarantäne-Regelung bei Kindern macht momentan wenig Sinn», so Berger wörtlich.

Es sei ausreichend, wenn die Schulen die Kinder wöchentlich testen würden, um grössere Ausbrüche zu vermeiden. Kämen dazu regelmässiges Lüften und Händewaschen, könnten Kinder bedenkenlos in die Schule geschickt werden, so Berger.



Berger, der als Kinderarzt und Infektiologe am Universitäts-Kinderspital Zürich arbeitet, argumentiert dabei mit meist milden oder asymptomatischen Verläufen von Covid-19 bei Kindern: «2 von 100 haben Symptome, die länger andauern. Ob das Long Covid ist, wissen wir nicht.»

Nicht alle Eltern unterstützen Bergers Forderung

Der Vorstoss, Berger schlägt zudem ein Ende der Maskenpflicht für Schülerinnen und Schüler vor, trifft nicht bei allen Eltern auf Zustimmung. Unter dem Hashtag #ProtectTheKids zweifeln einige Bergers Einschätzungen an, wollen sich auf Nachfragen von «blue News» allerdings nicht erklären.

Auch die Zürcher Grünen-Nationalrätin Marionna Schlatter will sich zu dem Thema nicht äussern, und weist eine Anfrage freundlich aber bestimmt ab. Schlatter hatte angesichts der zuletzt stark steigenden Infektionszahlen an Schulen der Bildungsdirektion des Kantons Zürich Überforderung attestiert.

In der Zürcher Bildungsdirektion steht man Bergers Vorschlag offen gegenüber, wie es auf Nachfrage heisst: «Eine Befreiung von der Quarantäne an Schulen und Klassen, die repetitiv testen, begrüssen wir sehr. Das ist für die Kinder und Eltern eine Entlastung, bringt Ruhe in den Schulalltag und erhöht die Akzeptanz gegenüber dem repetitiven Testen.»

Offene Schulen sind am wichtigsten

Wissenschaft und Kindermedizin stützen Bergers Forderungen und Argumentation. Der Berner Kinderarzt und Infektiologe Christoph Aebi plädierte in einem Interview (kostenpflichtig) mit der «Neuen Zürcher Zeitung» im August dafür, dass es aus kinderärztlicher Sicht das oberste Ziel sein müsse, «die Schulen offen zu lassen. Denn wir haben gesehen, dass geschlossene Schulen bei den Kindern zu massiven sekundären Schädigungen führen. Deshalb wäre ich bereit, relativ viel zu unternehmen, um die Schulen offen zu behalten».

Auch für Aebi sind Schutzmasken in der Primarstufe nicht notwendig, wichtiger seien Lüften und regelmässiges Händewaschen: «Weil die Ansteckungsfähigkeit dieses Virus ähnlich hoch ist wie bei Windpocken. Bei einem solchen Erreger dürften kurzfristige Kontakte eine grössere Rolle spielen als die längerfristige Reduktion der Partikelzahl im Unterrichtszimmer, die ja keinesfalls vollständig sein kann.»



Das kindliche Immunsystem scheint auf die Attacken des Coronavirus jedenfalls besser vorbereitet zu sein als das von Erwachsenen. Die Zellen der oberen Atemwege befinden sich einer aktuellen Untersuchung zufolge bereits in erhöhter Alarmbereitschaft und können das Virus im Falle einer Infektion schnell bekämpfen, bevor es sich massiv vermehrt.

Das erklärt vermutlich auch, warum Kinder sehr viel seltener als Erwachsene schwer an Covid-19 erkranken, wie Forschende aus Berlin und Heidelberg berichten.

Um Viren schnell bekämpfen zu können, müssen sogenannte Mustererkennungsrezeptoren aktiviert werden, erläutern die Forschenden. Und genau dieses System war bei den Kindern in den Zellen der oberen Atemwege und in bestimmten Zellen des Immunsystems aktiver als bei den Erwachsenen, zeigten die Analysen.

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Geringe Übertragungsrate unter Kindern

«Die Ansteckung von Kind zu Kind ist nicht das grosse Problem», sagte Christoph Berger in der «Rundschau». Ansteckungen würden vor allem dann kritisch, wenn sie mit gefährdeten Personen in Kontakt kommen. «Da müssen sich die Eltern eigenverantwortlich fragen, wo sie die Kinder noch hinschicken.»

Eine australische Datenauswertung, die «The Guardian» vorliegt, liefert Zahlen zu Bergers Einschätzung. Demnach hätten infizierte Personen – Lehrkräfte und Kinder in den untersuchten Schulen und Kitas – kaum andere angesteckt. Die Übertragungsrate von Erstinfizierten auf Kontakte in den Bildungseinrichtungen habe demnach 4,7 Prozent betragen.

Dass wegen eines Covid-Falls eine ganze Klasse in Quarantäne geschickt wird, erscheint vor diesem Hintergrund nicht zwingend notwendig. Anders sieht es bei den Infizierten selbst aus, die das Virus vor allem im eigenen Haushalt weitergeben. Hier habe die Ansteckungsrate mehr als 70 Prozent betragen.



Felix Huber, Präsident der mediX Ärztenetze, schätzte im Gespräch mit «blue News» bereits im Frühjahr ein, dass Kinder keine Pandemietreiber sind. «Natürlich verbreiten sie das Virus weiter, sie sind auf jeden Fall auch eine Ansteckungsquelle, wenngleich keine relevante.»

Huber ging damals sogar noch weiter: «Kinder selber können sich ruhig weiter anstecken, sie machen dann einfach einen grippalen Infekt durch. Die Krankheit verläuft in den meisten Fällen ohne Komplikationen.» Diese Einschätzung wird von Christoph Berger und Christoph Aebi geteilt. Letzter sagte zu «blue News» erst vor wenigen Tagen: «Aus den USA wissen wir, dass 1 bis 2 Prozent der infizierten Kinder hospitalisiert werden müssen.» Das entspreche ungefähr dem Wert, der in der Schweiz seit Beginn der Pandemie beobachtet werde.

Langfolgen bei Kindern möglich, aber selten

Ähnliche Zahlen gibt es in Deutschland. Dort kamen laut einer Erhebung des Robert-Koch-Instituts schwere Verläufe bei infizierten Kindern und Jugendlichen bis 17 jähren in 1 Prozent der Fälle vor. Eine britische Studie zeigt, dass Kinder nach einer Ansteckung im Mittel nur sechs Tage krank waren.

Nicht von der Hand zu weisen ist, dass auch Kinder an längerfristigen Folgen einer Covid-Erkrankung leiden können. Long Covid ist in der Altersgruppe allerdings sehr selten. «Nach den neuesten Daten aus England und unseren Beobachtungen haben etwa 5 Prozent der erkrankten Kinder und Jugendlichen auch einen Monat nach der Infektion noch Beschwerden. Die allermeisten von ihnen fühlen sich nach zwei Monaten aber wieder fit», erklärte Christoph Aebi in der NZZ. Gemäss dem Statistik-Amt Grossbritanniens sind dabei vor allem Kinder über 12 Jahre betroffen. 



Mehr Sorgen bereitet Aebi, das multisystemische inflammatorische Syndrom (PIMS). Dabei handelt es sich um eine Überreaktion des Immunsystems mit tagelangem hohem Fieber, oft begleitet von Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall und Ausschlägen, das nach einer Covid-19-Erkrankung ausgelöst werden kann. Dies sei hierzulande zwar sehr selten, bei einem Anstieg der Gesamtfallzahl werde man aber «wieder mehr Kinder mit PIMS hospitalisieren müssen, sofern die Delta-Variante diese entzündliche Erkrankung vier bis sechs Wochen nach der Infektion auch triggert».

«Die Kinder müssen im nächsten Winter auch leben», sagte Christoph Berger noch im SRF, «und wir können sie nicht impfen. Wir müssen also schauen, wie wir durch den Winter kommen und was für Kinder und Erwachsene stimmt.»

Auch die Bildungsdirektion des Kantons Zürich will einen Weg finden, «wie wir mit dem Virus längerfristig umgehen. Repetitive Tests sind für die Schulen ein geeignetes Mittel, damit der Unterricht so geregelt wie möglich stattfinden kann.» Aktuell würden sich über 60 Prozent der Schulgemeinden am repetitiven Testen beteiligen, «darunter alle Schulkreise der Städte Zürich und Winterthur, und es werden laufend mehr. Nach wie vor können Ausbruchstestungen angeordnet werden.»

Transparenz: Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich hat eine Anfrage von «blue News» nach der Erstveröffentlichung beantwortet. Wir haben den Artikel mit den Antworten ergänzt..