Flexibles Schulmodell In die Turnstunde gehen oder doch lieber ausschlafen?

Von Anna Kappeler (Text) und Roman Müller (Video)

20.2.2022

In die Turnstunde gehen oder doch lieber ausschlafen?

In die Turnstunde gehen oder doch lieber ausschlafen?

Eine Schule im Kanton St. Gallen wagt das Experiment: Was passiert, wenn die Schüler*innen wählen können, ob sie statt in den Sport zu gehen länger im Bett bleiben wollen? Das sagen die Jugendlichen.

10.02.2022

Eine Schule im Kanton St. Gallen wagt das Experiment: Was passiert, wenn die Schüler*innen wählen können, ob sie, statt in den Sport zu gehen, länger im Bett bleiben wollen? Das sagen die Jugendlichen und die Schulleitung.

Von Anna Kappeler (Text) und Roman Müller (Video)

Ab dem neuen Schuljahr wird die erste Schulstunde an der Sekundarschule in Gossau SG freiwillig. Die Schüler*innen haben verschiedene Wahlmöglichkeiten wie etwa Sport oder Musik. Oder sie dürfen die Frühlektion hochoffiziell sausen lassen. Und sie später am Tag nachholen.

Doch wie geht das einher mit den Lernvorgaben des Kantons? Kein Problem, sagt Roger John, Schulleiter der Sekundarschule Buechenwald. «Wir haben vorab beim Schulrat einen Antrag für das neue Modell gestellt.» Kurz vor Weihnachten habe man die Bewilligung bekommen.

Mehrere Möglichkeiten für erste Lektion

Viele Schüler seien am frühen Morgen noch sehr müde und entsprechend weniger aufnahmefähig. «Das ist nicht nur für die Schüler mühsam, sondern bedeutet auch für die Lehrerschaft eine zusätzliche Herausforderung», sagt John. Deshalb sollen die Schüler*innen «entsprechend ihrem persönlichen Lerntyp mehr mitbestimmen».

Heisst konkret: «Die Schüler*innen belegen in der ersten Stunde ein musisches Fach. Oder eine dritte Sportstunde», sagt Schulleiter John. Es gibt ausserdem die Möglichkeit eines betreuten Raums für Hilfe bei den Hausaufgaben. Oder aber die Jugendlichen können vorab einen Slot buchen für eine Eins-zu-eins-Nachhilfe bei einer Lehrperson ihrer Wahl.

Wer keine dieser Optionen wählt und die erste Stunde ausfallen lassen will, kann das. Sofern diese an Randstunden über Mittag oder am späteren Nachmittag nachgeholt wird.

An den Pflichtlektionen ändert sich nichts. Mathematik oder Sprachen müssen weiterhin von allen besucht werden. Neu starten diese Fächer erst ab der zweiten Lektion um 8.30 Uhr.

«Mir macht früh aufstehen nichts aus»

Herrscht ab Sommer gähnende Leere im Schulhaus während der ersten Lektion, die um 7.30 Uhr beginnt? Der Schulleiter verneint. Die Vorgespräche mit den Schüler*innen hätten etwas anderes ergeben.

Also Nachfrage bei den Betroffenen. «Megacool» sei es, den Stundenplan selber gestalten zu können, sagt etwa Jill Sutter, Schülerin der 2. Sekundarklasse (siehe auch Video oben im Artikel). So könne sie selber entscheiden, was sie wolle.

Ihr mache früh aufstehen nichts aus. «Dafür bin ich froh, wenn ich am Nachmittag nicht so lange bleiben muss. Und bei den Hausaufgaben nicht bis abends um 21 Uhr dransitzen muss.» Sie werde abwechseln zwischen der Sport- und Musikstunde am frühen Morgen.

Ihr Gspänli Marco Fürer ergänzt: «Ich finde das eine sehr gute Sache, weil jeder anders besser lernt.» Auch er beginnt lieber früh am Morgen, sodass er am Nachmittag «dann mal raus kann». Der 2.-Sekler entscheidet sich am Morgen für den Sport, das sei «schon cooler als Mathe schon so früh».

«Wir Schulleiter müssen die Lehrer bremsen»

Die Schüler*innen freuen sich – und die Lehrer*innen? Schliesslich sind es Letztere, die das neue Modell umsetzen müssen. «Natürlich bedeutet das für die Lehrerschaft mehr Aufwand, wenn sie alle individuellen Anmeldungen berücksichtigen müssen», sagt Schulleiter John. Doch der Stundenplan sei vorher schon komplex gewesen.

Zu Beginn hätten die Lehrer*innen Respekt gehabt, inzwischen seien sie begeistert. «Und wir Schulleiter müssen sie fast schon bremsen.» Wie sich das auswirkt? «Zuerst wollten wir das Modell nur in einigen Klassen einführen, nun starten wir gleich mit allen zusammen.»

Die Schule nehme die Schüler*innen ernst und schaffe damit eine grössere Verbundenheit mit der Schule. Das Modell entspreche dem Zeitgeist einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In einigen Familien werde über Mittag zusammen gegessen, bei anderen verliessen beide Elternteile frühmorgens das Haus Richtung Arbeit. «Eine individuelle Lösung hilft allen», sagt der Schulleiter.

«Jugendliche brauchen längeren Schlaf»

Die Hirnforschung gibt dem Ansatz der Schule in Gossau recht. Jugendliche «gehen später ins Bett und benötigen am Morgen einen längeren Schlaf, damit sie leistungsfähig sind», sagte die Hirnforscherin Barbara Studer dem SRF. Aus wissenschaftlicher Sicht mache es Sinn, wenn Jugendliche am Morgen nicht zu früh mit dem Lernen beginnen müssten. «Internationale Studien zeigen, dass Jugendliche profitieren, wenn sie am Morgen länger schlafen.»

Bleibt die Frage der Finanzen. Laut Schulleiter John kostet das neue Modell die Stadt Gossau «etwas mehr». Trotz dieser erhöhten Finanzen habe man nur wenig Überzeugungsarbeit gebraucht, bis alle im Boot waren.

Weitere Schulen könnten nachziehen

Mit Interesse verfolgt wird der Pilotversuch aus Gossau beim Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. Zu beachten seien «die Folgen für den Personalaufwand sowie die Belegung von Turnhallen und Spezialräumen», sagt Zentralsekretärin Franziska Peterhans.

Dass bald weitere Schulen nachziehen, sei möglich. «Studien in den vergangenen Jahren haben einheitlich ergeben, dass die Schule für Jugendliche eigentlich zu früh beginnt.» Nicht, weil sie faul seien, sondern weil bei Jugendlichen entwicklungsbedingt frühmorgens die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit vermindert ist. Das mache das Lernen schwierig.

Schulleiter John ist vom neuen Modell überzeugt: «Wir haben den Nerv der Zeit getroffen.»