Schweizer Neutralität Die SVP will das Volk entscheiden lassen

von Stefan Michel

4.5.2022

Braucht die bewaffnete Neutralität der Schweiz ein Update? Die Frage wird im Bundeshaus ebenso diskutiert wie im Rest des Landes. 
Braucht die bewaffnete Neutralität der Schweiz ein Update? Die Frage wird im Bundeshaus ebenso diskutiert wie im Rest des Landes. 
Keystone

In einem sind sich Politiker*innen aller Lager einig: Die Schweiz muss klären, welche Art von Neutralität sie sich wünscht. Die SVP will ihrer Interpretation jetzt mit einer Volksabstimmung zum Durchbruch verhelfen.

von Stefan Michel

4.5.2022

Die Schweiz schwört seit über 200 Jahren auf ihre Neutralität, zu der sie beim Wiener Kongress verpflichtet worden war. Unparteiisch hat sie zwei Weltkriege relativ unbeschadet überstanden und bewegte sich während des Kalten Kriegs erfolgreich zwischen den Blöcken – wenn auch mit klaren ideologischen Präferenzen für die eine Seite.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert ist, hat sich die Schweizer Regierung entschieden, sich an den Sanktionen gegen den Angreifer zu beteiligen – sehr zum Missfallen der SVP. Die Schweiz habe mit diesem Schritt ihre Neutralität aufgegeben, argumentierte etwa Nationalrat Roger Köppel an der SVP-Delegiertenversammlung in Chur. 

In die entgegengesetzte Richtung wollen Politiker*innen der übrigen Parteien die Neutralität entwickeln. Mitte-Präsident Gerhard Pfister fordert, dass die Schweiz Waffen an einen angegriffenen Staat wie die Ukraine müsse liefern können. Seine Parteikollegin Elisabeth Schneider-Schneiter sagte den Tamedia-Zeitungen, die Neutralität im klassischen Sinne habe ausgedient. Wenn die Werte des Westens so angegriffen würden wie jetzt in der Ukraine, müsse die Schweiz einen Beitrag leisten, diese zu verteidigen, so ihre Argumentation.

Gleichzeitig betonte Präsident Marco Chiesa wiederholt, dass auch die SVP den russischen Angriffskrieg verurteile.

Für die Linke ist die Neutralität und das Abseitsstehen in gewissen Konflikten schon lange ein wichtiges Thema. So sagte Nationalrat Fabian Molina den Tamedia-Zeitungen, die Zeit sei vorbei, in der die Schweiz habe abseitsstehen können. Parteigenosse Erich Nussbaumer sekundierte: «Bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg kann man sich nicht hinter der Neutralität verstecken.»

Neutralität ist relativ

In der Bevölkerung findet die Beteiligung der Schweiz an den Sanktionen gegen Russland und Putin nahestehenden Personen eine Mehrheit, wenn auch keine allzu deutliche, wie eine Umfrage des Instituts Link zeigt. Zu weit gehen die Strafmassnahmen – je nach Inhalt – zehn bis 23 Prozent der Befragten. Eine noch etwas grössere Minderheit wünscht sich schärfere Einschränkungen gegen die Verantwortlichen der Invasion und deren Unterstützer. 

Die Definition der Neutralität werde sich verändern, sagte Historiker Georg Kreis in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» (zahlungspflichtiger Inhalt). Grund dafür sei eine «fundamental veränderte Weltlage», so der emeritierte Professor der Universität Basel. 

Es müsse zwischen dem Neutralitätsrecht und der Neutralitätspolitik unterschieden werden, führt Kreis aus. Die Neutralitätspolitik sei schon immer flexibel gehandhabt worden. Prinzip und Praxis klafften oft auseinander. Man könne sie dogmatisch auslegen oder sich näher an die realpolitischen Notwendigkeiten halten. Dabei verweist er auf die enge Zusammenarbeit der Schweiz mit den USA während deren sogenannten «Kriegs gegen den Terror» unter dem damaligen Bundesrat Christoph Blocher.

Die SVP will die «integrale Neutralität»

Im Fall des Kriegs in der Ukraine will der Angesprochene von einem solchen Vorgehen gar nichts wissen. Gemäss Tamedia-Zeitungen (zahlungspflichtiger Inhalt) bereitet Blocher vielmehr eine Volksinitiative vor. SVP-Nationalrat Franz Grüter erläuterte an gleicher Stelle das Anliegen seiner Partei: Die Schweiz müsse zurück zur integralen Neutralität, diese sei ein wichtiger Stützpfeiler der Schweizer Aussenpolitik und ein Trumpf, um in internationalen Konflikten vermitteln zu können.

Eine Klärung der schweizerischen Neutralität fordert auch Hans-Peter Portmann. Er ist Mitglied der Aussenpolitischen Kommission und hat dort einen Antrag durchgebracht, dass die APK gesetzgeberisch aktiv werde, wie die Tamedia-Zeitungen schreiben, dass sie also in einem Gesetzesvorschlag definiere, welche Inhalte die Neutralität der Schweiz künftig habe.

In der Bundesverfassung ist die Wahrung der Neutralität als Aufgabe des Bundesrats (Artikel 185) und der Bundesversammlung (Artikel 173) festgeschrieben. Was darunter aktuell zu verstehen ist, hält das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten auf seiner Website fest: Sie basiert auf dem Neutralitätsrecht, das in den Haager Abkommen von 1907 festgehalten ist.

Ein neutraler Staat ist verpflichtet:

  • «sich der Teilnahme an Kriegen zu enthalten»
  • «seine Selbstverteidigung sicherzustellen»
  • «alle Kriegsparteien im Hinblick auf den Export von Rüstungsgütern gleichzubehandeln»
  • «den Kriegsparteien keine Söldner zur Verfügung zu stellen»
  • «den Kriegsparteien sein Staatsgebiet nicht zur Verfügung zu stellen»

Die Schweiz verletze das Neutralitätsrecht mit der Teilnahme am Sanktionsregime des Westens nicht, hielt Bundespräsident Ignazio Cassis am 28. Februar fest. Waffen liefert die Schweiz bislang aufgrund des Kriegsmaterialgesetzes nicht und hat auch Deutschland verboten, Schweizer Munition aus deren Beständen an die Ukraine zu übergeben.

Das Thema bleibt trotzdem kontrovers – nicht zuletzt, weil sie verschiedenen politischen Lagern die Chance bietet, zu demonstrieren, für welche Werte sie einstehen.