Ein Bild und seine Geschichte Dieser Schweizer wagte sich als Erster so nah an die Hölle

Christian Thumshirn

2.6.2024

ETH Bildarchiv

Es bebt und brodelt am Vesuv. Die Phlegräischen Felder sind so aktiv wie schon lange nicht mehr. Gut, sind sie bestens untersucht. Und wem verdanken wir das? – Einem Deutschschweizer mit bewegtem Leben. 

Christian Thumshirn

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  • Die Phlegräischen Felder westlich von Pozzuoli in Kampanien gelten als der einzige Supervulkan Europas.
  • Der Deutschschweizer Immanuel Friedländer war einer der ersten, der sich der Erforschung dieses Gebiets am Golf von Neapel widmete.
  • Mit der Gründung eines Schweizerischen Vulkaninstituts in Neapel, seiner umfangreichen Gesteinssammlung und seinem riesigen fotografischem Nachlass schuf er die Grundlagen für die moderne Vulkanologie.

Die Phlegräischen Feldern versetzen 500'000 Anwohner rund um Neapel in Angst und Schrecken. Der brandgefährliche Supervulkan ist aktiver denn je und beschäftigt derzeit die Weltpresse. Je häufiger Eruptionen gemessen werden, desto höher das Interesse. Denn die Region ist beliebt bei Touristen. Schliesslich liegen die beiden archäologischen Topsehenswürdigkeiten Pompeji und Herkulaneum nur ein paar Kilometer entfernt. Wer sich intensiv mit dem Thema befasst, stösst unweigerlich auf ihn:

Immanuel wer?

Da gab es einen Deutschschweizer, längstens wohnhaft in Zürich, zuerst an der Dolderstrasse 90, dann in der Zürichbergstrasse 118, der sich wie kaum ein anderer um den vulkanischen Hotspot wenige Kilometer nördlich der Millionenmetropole Neapel verdient gemacht hat.

Die Fotografie, aufgenommen 1903, zeigt Immanuel Friedländer, 32-jährig, inmitten der sogenannten Solfatara, also an der Stelle, an der die Aktivität der Phlegräischen Felder am ehesten spürbar wird. Einen Touristen würde man schelten, stünde er so nah an einer brodelnden Bocca. Der Wahlzürcher wusste genau, was er tat: Denn die Vulkanologie war zeitlebens sein Beruf und seine Leidenschaft.

Ein Reisender sucht sein Ziel

Ursprünglich promoviert Friedländer, der in Berlin in wohlhabende jüdische Verhältnisse hineingeboren wurde, in Physik. Doch sein Interesse für Vulkane setzt früh ein und bestimmt sein ganzes Leben. Sein älterer Bruder Benedict, Zoologe und Sexualforscher, soll es gewesen sein, der den jungen Immanuel für die Geologie begeistern konnte. Auslöser war wohl eine Hawaii- und Südostasienreise, die das Brüderpaar im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts unternahm. Dutzende Fotos schiessen Immanuel und Benedict auf ihrem Trip. Neben ethnologischen Szenen zeigen sie vor allem Gesteinsformationen und natürlich: Vulkane.

Lavasee am Vulkan Kilauea, Hawaiische Inseln (Dezember 1893). Fotografie aus der Sammlung Immanuel Friedländer.
Lavasee am Vulkan Kilauea, Hawaiische Inseln (Dezember 1893). Fotografie aus der Sammlung Immanuel Friedländer.
ETH-Archiv

1901 heiratet Friedländer die Österreicherin Hertha Meier. Auch sie stammt aus einer gut situierten Familie. Ihr Vater ist Schriftsteller, Unternehmer und Generalkonsul der Republik Guatemala, ihre beiden Brüder wie Friedländer in der Forschung. Schon ein Jahr nach der Hochzeit zügelt Immanuel mit Hertha an den Ort, der für sein Forschungsgebiet nicht idealer hätte sein können. In eine Villa auf dem Vomero, einem Hügel in Neapel, der sich exakt auf halber Strecke zwischen Vesuv und der westlich von Pozzuoli gelegenen brodelnden Caldera Richtung Meer erstreckt. Dort widmet er sich fortan dem geologisch wohl aufregendsten Gebiet Europas: den Phlegräischen Feldern.

Wann ist ein Vulkan ein Supervulkan?
ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Supervulkane sind die grössten bekannten Vulkane, die im Gegensatz zu «normalen» Vulkanen aufgrund der Grösse ihrer Magmakammer bei Ausbrüchen keine Vulkankegel aufbauen, sondern riesige Calderen im Boden hinterlassen. Als Supereruption werden Ausbrüche mit dem Vulkanexplosivitätsindex-Wert 8 bezeichnet, wobei gelegentlich auch Ausbrüche der Stärke VEI-7 dazu gerechnet werden. Eine wissenschaftlich exakte Definition gibt es allerdings nicht. Den Begriff Supervulkan hat die Fachliteratur erst kurz nach der Jahrtausendwende aus Medienberichten übernommen. Der letzte Ausbruch eines Vulkans mit VEI-8 geschah im Gebiet des Lake Taupō auf Neuseeland vor etwa 26'500 Jahren.

Seine Lust, auf Forschungsreisen zu gehen, mindert der neue Wohnsitz und seine stetig wachsende Familie nicht: Nordamerika, die Kanaren und Madeira, Mexiko, Samoa und Fidschi, Japan und die Kapverden hat er bereits gesehen. Überall ist er gefesselt von den vulkanischen Phänomenen. «Da ihm bei seinen Reisen so richtig augenfällig zum Bewusstsein gekommen war, wie ungleich der Erforschungsstand der einzelnen Vulkangebiete unserer Erde war», so resümiert die «Neue Zürcher Zeitung» 1941 anlässlich seines 70. Geburtstag, «so reifte in ihm der Gedanke, ein internationales Institut zur Koordination der vulkanologischen Forschung zu gründen.»

1910 präsentiert er seine Pläne auf dem internationalen Geologenkongress in Stockholm. Die Fachwelt ist von der Idee begeistert, Friedländer gelingt es in der Folgezeit aber nicht, genug Geldgeber für sein Projekt aufzutreiben.

Deswegen entschliesst er sich 1913 dazu, ein Vulkaninstitut aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Im Bereich der Solfatara richtet er eine wissenschaftliche Messstation ein, sammelt vor Ort und auf Reisen Gesteinsproben, die in Neapel und am Mineralogischen Institut in Zürich von Forschenden ausgewertet werden. Ausserdem publiziert er eine Fachzeitschrift, von der bis 1936 insgesamt 22 Bände erscheinen.

Aus dem Privatinstitut wird eine Schweizer Stiftung

Der Erste Weltkrieg zwingt Friedländer dazu, seinen Wohnsitz in die Schweiz zurückzuverlegen. Das Institutsgebäude in Neapel mit Bibliothek und Forschungsequipment wird unter die treuhänderische Verwaltung des italienischen Staates gestellt.

Um das Institut als Institution zu erhalten, gründet Friedländer eine private Stiftung: das «Vulkan-Institut Immanuel Friedländer» mit Sitz in Schaffhausen.

Trotz der prekären Umstände lobt die Stiftung auch mitten im Krieg ein Preisausschreiben für eine Forschungsarbeit aus. Der Preis ist mit 6000 Schweizer Franken dotiert. Eine für die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts enorme Summe, die heute kaufpreisbereinigt rund 150'000 Franken entsprechen würde. «Die Bedingungen für das Zustandekommen von Systemen regelmässig angeordneter Spalten in festen Krusten» sollen experimentell untersucht werden. Die wissenschaftliche Arbeit dürfe in deutscher, italienischer, französischer oder englischer Sprache ausgeführt werden. Der aufkommende Chauvinismus, das kriegerische Freund-Feind-Denken, scheint Friedländer fremd. Die «Neue Zürcher Zeitung» kommentiert in ihrer Ausgabe vom 14. September 1917 dementsprechend: «Es ist in der heutigen Zeit besonders zu begrüssen, wenn die Fäden wissenschaftlicher Zusammenarbeit nicht überall abreissen werden (…).»

Zurück zum Objekt der Begierde

Die Vulkanstiftung übersteht den Ersten Weltkrieg. Immanuel Friedländer und seine mittlerweile sechsköpfige Familie remigrieren an den Golf von Neapel. Friedländer widmet sich in den Folgejahren der intensiven geologischen Beobachtung und Forschung, insbesondere der beiden Vulkane am Golf von Neapel. Als der Vesuv am 14. Dezember 1932 aus seiner jahrelangen Ruhepause erwacht, sind es die seismischen Geräte des Schweizerischen Vulkaninstituts, die die Erdbebenstösse des strombolischen Ereignisses aufzeichnen. 

Friedländer verliert seinen Ehrendoktortitel

Den Schockwellen des aufziehenden Nationalsozialismus sind die Friedländers allerdings nicht gewachsen. 1934 verschlechtern sich die Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien dermassen, dass das Institut abgewickelt werden muss. Und nicht nur das: Auch Immanuel Friedländer gerät in den Strudel des Faschismus: 1921 hatte ihm die Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn anlässlich seines 50. Geburtstags den Ehrendoktortitel der Philosophie verliehen. Nun wird er ihm wieder entzogen. Die läppische Begründung: Mitarbeitern des deutschen Konsulats in Neapel sei seine deutschfeindliche Gesinnung zu Ohren gekommen.

Seine letzten Lebensjahre verbringt Immanuel Friedländer in der Schweiz. Nur wenige Monate vor seinem Tod wird er von der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn – mit seinem Einverständnis – rehabilitiert und erhält seine Ehrendoktorwürde zurück. Am 3. Januar 1948 stirbt der grosse Schweizer Vulkanologe nach kurzer, schwerer Krankheit und findet auf dem Friedhof Fluntern am Zürichberg seine letzte Ruhe. Seinen wissenschaftlichen Nachlass vermacht er der ETH Zürich, darunter 8900 Fotografien, die im Bildarchiv der ETH-Bibliothek zum einen Teil online bestaunt werden können.


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