Experte über Klimafolgen «Im Schweizer Wald rumpelt es gewaltig»

Von Andreas Fischer

25.12.2021

Fichten-Monokulturen sind selten: Dem Schweizer Wald geht es verhältnismässig gut.
Fichten-Monokulturen sind selten: Dem Schweizer Wald geht es verhältnismässig gut.
KEYSTONE

Der Klimawandel setzt den Wäldern zu. Dass sie geschützt werden müssen, ist eine globale Notwendigkeit. Ein Forstingenieur erklärt, wie das in der Schweiz gelingt und warum die Waldfläche hierzulande zunimmt.

Von Andreas Fischer

Der britische Premierminister Boris Johnson bezeichnete sie als «Kathedralen der Natur», die unverzichtbar für das Überleben der Menschheit seien: Mehr als 100 Staaten, darunter die Schweiz, haben auf der Weltklimakonferenz in Glasgow einen Pakt geschlossen, um spätestens bis 2030 die Zerstörung von Wäldern und anderen wertvollen Ökosystemen zu stoppen.

Das Beste von 2021

Zum Jahresende bringt blue News die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 6. November 2021.

Doch wie steht es um die Wälder hierzulande? blue News erreicht Peter Brang von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL «in der Gegend von Lausanne im Wald». Der Forstingenieur will dort eine Exkursion leiten, nimmt sich vorher aber Zeit für ein ausführliches Gespräch über den Gesundheitszustand des Schweizer Waldes.

Warum sollten wir uns um den Wald kümmern?

Ganz einfach: Weil der Wald uns viel bietet. Ganz offensichtlich ist der Erholungsfaktor. Es ist schon schön, wenn bei einem Spaziergang viele Bäume Schatten spenden, oder? Dann kann man zum Beispiel ganz trefflich spezielle Vogelarten beobachten. Der Wald liefert Holz und ist eminent wichtig für die Trinkwasserreinigung – die Waldböden sind dabei sehr effektiv. Insbesondere in der Schweiz ist der Wald auch ein Schutz vor Naturgefahren. Man will ja sicher sein, wenn man in den Bergen wohnt, wandert oder mit der Bahn oder im Auto unterwegs ist. Dann ist man doch froh, wenn über einem ein funktionsfähiger Schutzwald steht.

Was macht denn einen funktionierenden Schutzwald aus?

Er muss einen Mindestdeckungsgrad haben. Es müssen also genügend Bäume im Wald stehen. Und er sollte nicht zu grosse Lücken haben.

Hilft dabei eine gewisse Diversität von Baumarten?

Man kann Artenvielfalt nicht erzwingen. Was vor allem hilft, ist, wenn die Baumarten gut an den Standort angepasst sind. Es gibt von Natur aus Standorte, an denen nur eine oder zwei Arten vorkommen. Aber die sind dann eben angepasst. Dies vermindert das Risiko, dass ein Schutzwald flächig abstirbt oder dass grosse Lücken entstehen.

Zur Person
zVg/Gottardo Pestalozzi, WSL

Dr. Peter Brang leitet an der WSL das Forschungsprogramm Wald und Klimawandel. Der Wissenschaftler interessiert sich insbesondere für die Waldentwicklung und deren Lenkung durch den Menschen und will die wissenschaftliche Grundlage für ein nachhaltiges Waldmanagement liefern, «das ökologische, ökonomische und soziale Aspekte angemessen berücksichtigt».

Wie muss ein gesunder Wald aussehen? Woran erkenne ich ihn?

Die Baumarten und auch die übrigen Arten entsprechen dem Standort und können mit den örtlichen Gegebenheiten gut umgehen. Diversität ist gut: Artenvielfalt sichert einfach Risiken ab. Der Boden sollte intakt sein, sich natürlich entwickelt haben und nicht stark vom Menschen gestört worden sein.

Weltweit wird jede Minute Wald mit der Fläche von 27 Fussballfeldern vernichtet: Wie viel Waldfläche wird jedes Jahr in der Schweiz vernichtet?

In der Schweiz nimmt die Waldfläche zu.

Das ist jetzt überraschend: Was sind die Gründe dafür?

Die Zunahme der Waldfläche hat zwei Ursachen. Zum einen gibt es einen Rückgang der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung in schwierigen Lagen – also vornehmlich in den Bergen. Die zweite ist der Klimawandel.

Der Wald wächst wegen des Klimawandels? Das müssen Sie jetzt bitte genauer erklären.

Wenn es wärmer wird, werden weitere Gebiete für die Bäume besiedelbar. Der Prozess findet oberhalb der bisherigen Waldgrenze statt. Der Wald breitet sich also nach oben aus.

Ganz einfach gefragt: Ist das eine gute Nachricht oder keine so gute?

Das ist die Natur. Der Klimawandel befördert die Prozesse, weil es sich meistens um Gebiete handelt, die an der Waldgrenze liegen. Dort also, wo es den Bäumen früher eigentlich zu kühl war. Wenn man den Aspekt der Bewaldung der landwirtschaftlichen Nutzflächen betrachtet, holen sich die Wälder einfach den Raum zurück, den ihnen die Menschen genommen haben.

Was schön daran ist: Es entsteht eine Art wilder Wald, auch wenn der im Moment nur mit jungen Bäumen bestockt ist. Problematisch auf der anderen Seite ist, dass dadurch bestehende Ökosysteme verloren gehen – etwa Weiden mit ihrer besonderen Flora. In Schwarz-Weiss-Kategorien kann man den Prozess nicht bewerten.

Wie steht es denn insgesamt um den Schweizer Wald? Wie gesund ist er?

Eigentlich geht es ihm relativ gut. Durch die zuletzt sehr trockenen Sommer seit 2018 sind allerdings auch einige Fragezeichen aufgetaucht. Solche Klimaextreme waren früher oder später zu erwarten. Dass die Trockensommer aber so rasch auftraten und teilweise zum Absterben von Bäumen führten, kam allerdings etwas überraschend und führt zu akuten Problemen. Die Trockenheit begünstigt zum Beispiel die Ausbreitung der Borkenkäfer, die vornehmlich Fichten befallen. Mittlerweile sind, von einer anderen Käferart, aber auch Tannen stärker betroffen.

Das solltest du über den Schweizer Wald wissen

  • Ungefähr ein Drittel der Schweizer Landesfläche ist mit Wald bedeckt – insgesamt etwa 1,32 Millionen Hektaren (ha).
  • Die Waldfläche in der Schweiz nimmt jährlich um etwa 4000 ha zu. Das entspricht ungefähr der Grösse des Bielersees.
  • In Schweizer Wäldern stehen circa 557 Millionen Bäume – pro EInwohner*in sind das etwa 65 Waldbäume.
  • Die häufigsten Waldbäume sind Fichte (Rottanne), Weisstanne und Buche. Sie decken etwa 76 Prozent des Holzvorrates ab.
    (Quelle: Wald Schweiz)

Borkenkäfer werden immer vor allem in Monokulturen zum Problem: Ist der Schweizer Wald zu wenig divers?

Die vorhandenen Monokulturen der Fichte verschärfen das Borkenkäferproblem. So drastisch wie in Teilen Deutschlands, wo man vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg viele Fichten- und Kiefernwälder begründet hat, ist es in der Schweiz nicht. Hier wurden im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar auch Monokulturen in den Wäldern angepflanzt. In den letzten Jahrzehnten ist aber ein Gegentrend zu beobachten. Es werden keine Monokulturen mehr angelegt. Es dauert allerdings sehr lange, bis sich die Effekte bemerkbar machen. Ein Baum wächst nun mal nicht von heute auf morgen.

Heute sieht man Fichten-Monokulturen vor allem noch im Mittelland, in den tieferen Lagen. Aber sie nehmen jährlich ab. Auch bei Aufforstungen in den Schweizer Alpen hat man häufig die Fichte verwendet – oder es ist nur die Fichte übrig geblieben.

Es heisst immer, der Wald müsse «fit gemacht» werden für den Klimawandel. Wie gelingt das am besten?

Die klimatischen Veränderungen, also wärmere Temperaturen, heisse und trockene Sommer, kommen extrem schnell auf den Wald zu. Wir können nicht davon ausgehen, dass Wälder eine derart rasante Veränderung schon einmal erlebt haben und entsprechend darauf vorbereitet sind. Das sind sie nicht, und deswegen rumpelt es sozusagen gewaltig im Wald. Man sieht es daran, dass einzelne Wälder oder einzelne Baumarten absterben.

Ein weiteres massives, aber unterschätztes Problem ist der Verbiss: Der Wald passt sich gerade an den Klimawandel an, indem sich die Laubbäume ausbreiten, in den Gebirgen teilweise auch die Tanne. Aber gerade die zukunftsfähigen Arten werden von Wildtierarten kurz gehalten: Das heisst Rehe, Hirsche und Gämsen knabbern die Triebe ab. Wir riskieren im Moment, dass die Anpassung des Waldes durch hohe Wildbestände nicht gelingt. Der Wald verjüngt sich zwar, aber es überleben wieder nur die Fichten. Und die sind wiederum am wenigsten an den Klimawandel angepasst.

Könnte man nicht einfach die Abschussquoten erhöhen, oder ist das zu kurz gedacht?

Probieren Sie das mal! Die Jäger sind nicht dafür, weil sie dann weniger vor die Flinte bekommen. Und die urbane Bevölkerung ist auch nicht dafür, weil sie meint, das regelt sich schon alles von allein.

Natürlich kann man sagen, wir überlassen den Wald sich selbst. Ich habe keine Bedenken, dass sich die Natur nicht gut um sich selbst kümmert. Aber sie lässt sich dabei eben extrem viel Zeit. Die Frage ist aber, was wir vom Wald wollen. Wenn wir etwas Bestimmtes wollen, ist eine aktivere Haltung durchaus angezeigt. Wer unter einem Schutzwald wohnt, will doch so rasch wie möglich, dass kaputte Waldstellen «geflickt» werden. Da muss man dann nachhelfen.

Viele Fachleute bringen dafür eingeführte Arten ist Spiel …

Das können Bäume sein wie Douglasien oder Zedern oder Bäume aus dem mediterranen Raum. Ich finde, man sollte bezüglich der Arten eine gewisse Offenheit an den Tag legen. Was man allerdings sicher nicht machen sollte: die Fehler der Vergangenheit wiederholen und grossflächige Monokulturen anlegen. Einfach die Kiefern abschlagen und 1:1 durch Douglasien zu ersetzen, wäre äusserst riskant. Aber das will in der Schweiz auch niemand. Zumal es sehr teuer wäre.

Sind auch einheimische Arten für einen Wald mit Zukunft geeignet?

Durchaus, und das soll auch Priorität haben. Allerdings sind Eichen, Ahorn, Linden und Kirschbäume keine Nadelbäume und haben damit einen Nachteil. Aus Laubbäumen ist es viel schwieriger, eine höherwertige Verwendung zu erzielen, als aus Nadelbäumen. Deswegen werden sie oft zu Brennholz. Das aber ist bezüglich der CO2-Speicherung ziemlich dumm, weil das CO2 dann ja gleich wieder in der Luft ist. Sinnvoller ist es doch, Holz längerfristig zu binden - zum Beispiel als Baumaterial und im Idealfall als Ersatz für Energie-intensive andere Baustoffe. Aus diesem Grund halte ich es für durchaus gerechtfertigt, bei Pflanzungen auch an Nadelbäume zu denken.

«Die Wälder mehrerer Kantone (…) sind auf eindrückliche Weise von einem beispiellosen Waldsterben betroffen.» – schreibt SP-Ständerat Claude Hêche in einer Motion, in der er eine Gesamtstrategie für die Anpassung des Waldes an den Klimawandel fordert. Teilen Sie diese Einschätzung?

Das finde ich übertrieben. Unter Waldsterben verstehe ich, dass auf bestimmten Flächen alle Bäume absterben. Das haben wir in der Schweiz nicht. Was wir haben, sind Fälle, in denen einzelne Baumarten betroffen sind. Weil wir meistens Mischwälder haben, stehen dort aber immer noch andere Baumarten.

Könnte es denn in der Zukunft zu einem Waldsterben kommen?

Das erwarte ich nicht. Vorstellbar wäre es für mich am ehesten, wenn wir mehrmals hintereinander noch extremere Sommer bekommen in einigen Regionen in den Alpen, wo – auch von Natur aus – nur Fichten wachsen.

Welche Baumarten sind vom Massensterben betroffen?

Die Fichte geht wie gesagt wegen des Borkenkäferbefalls deutlich zurück. In gewissen Regionen sind auch die Weisstanne und die Buche betroffen. Das Unangenehme daran: Fichte, Tanne und Buche sind unsere drei Hauptbaumarten, sie machen etwa 70 Prozent des Schweizer Waldes aus. Natürlich sind aber nicht die ganzen 70 Prozent betroffen. Noch handelt es sich um lokale bis regionale Phänomene.

Und dann ist da noch das Problem mit der Esche …

Die Esche haben wir praktisch aufgegeben. Sie stirbt fast überall, wegen einer Pilzkrankheit aus Ostasien, die sich ganz schnell in ganz Europa ausgebreitet hat. Es ist schwer vorstellbar, dass dies ohne Zutun des Menschen passiert ist.

Sind einheimische Arten insgesamt bedrohter und müssen invasiven Arten Platz machen?

Das wüsste ich nicht. Wenn sie die Ausdehnung der Waldfläche mit einbeziehen, würde ich sogar sagen, dass die Ausbreitung der einheimischen Arten zunimmt. Der Wald wächst vor allem mit einheimischen Arten. Was freilich stimmt: Der Anteil von nicht-einheimischen Arten nimmt zu. Aber er liegt noch bei unter einem Prozent. In der Südschweiz sieht man allerdings Invasionen von gebietsfremden Baumarten: Im Tessin dehnen sich zum Beispiel Palmen relativ stark aus.

Das letzte Landesforstinventar zeichnete noch ein recht gutes Bild vom Zustand der Schweizer Wälder: Allerdings kamen die extrem trockenen Sommer 2018 bis 2020 erst nach der Datenerhebung. Wie viele solcher extremen Perioden kann denn der Wald verkraften, bis er nicht mehr der ist, den wir kennen?

Im Moment kann man nicht verallgemeinernd sagen, der Wald ist ins Mark getroffen. Er wird sich ohnehin verändern, das hat er immer schon getan. Wenn sich die Bäume in der Eiszeit nicht bewegt hätten, dann wären sie längst ausgestorben. Wir müssen damit rechnen, dass sich der Wald verändert, wenn sich das Klima verändert. Stellen Sie sich vor, Ihre Wohnung würde im Winter plötzlich statt auf 20 Grad immer auf 24 Grad geheizt: Dann wird Ihnen mit der Zeit unwohl. Also müssen Sie sich anpassen. Das macht der Wald auch gerade: Nadelbäume sterben ab, Laubbäume dringen vor. Das ist eigentlich eine gesunde Reaktion.

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