Europa-Diskussion«Nein zum EWR war ein historischer Fehlentscheid»
SDA/phi
4.12.2022 - 11:04
GLP-Präsident Jürg Grossen lässt die Debatte über einen EWR-Beitritt neu aufleben: Das Nein vor 30 Jahren war für ihn ein Fehler. Ein Experte glaubt derweil, mit einem neuen Bundesrat könnte es neuen EU-Schwung geben.
04.12.2022, 11:04
04.12.2022, 11:10
SDA/phi
GLP-Präsident Jürg Grossen will den EWR für die Schweiz wieder aufleben lassen. Der EWR sei quicklebendig. Norwegen, Island und Liechtenstein lebten hervorragend damit, sagte Grossen in einem Interview mit der «SonntagsZeitung».
Das Nein des Schweizer Volkes vor 30 Jahren sei ein historischer Fehlentscheid gewesen. In den Jahren danach habe der Zugang zum Binnenmarkt mit den bilateralen Verträgen zwar teilweise wieder gesichert werden können. Die bilateralen Verträge erodierten jedoch zunehmend. Die Beziehungen zur EU seien wie ein Kessel voller Löcher.
Allein mit Flickwerk komme die Schweiz nicht mehr weiter. Es brauche jetzt einen neuen Kessel. Und das sei für die Grünliberalen der EWR. Grossen habe Zweifel am Plan des Bundesrates, mit den Nachverhandlungen zum Rahmenabkommen den bilateralen Weg wieder sichern zu können.
Die Landesregierung sondiere in Brüssel, verheddere sich in Details und komme nicht weiter. «Wir stecken in einer Sackgasse», so Grossen. Mit dem EWR hätte die Schweiz eine rasche und langfristig stabile Lösung. Er sei ausgehandelt und decke über die Bilateralen hinaus den ganzen Binnenmarkt ab. Man könne Fehler machen. Aber man müsse auch bereit sein, diese zu gegebener Zeit zu korrigieren.
Frischer Schwung durch neue Bundesräte?
Fabio Wasserfallen, Politologe an der Universität Bern, hält es hingegen für möglich, dass es mit zwei neuen Mitgliedern im Bundesrat eine neue Dynamik im EU-Dossier geben könnte. Der Wechsel komme womöglich gar zu einem guten Zeitpunkt.
«Denn die Landesregierung ist absolut entscheidend in dieser Sondierungsphase mit der EU, in der wir uns aktuell befinden», sagte Wasserfallen im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. So gäben aktuell einzig die Landesregierung und ihre Diplomaten die Richtung im EU-Dossier vor - die institutionellen Fragen miteingeschlossen.
«Erst später kommen in diesem politischen Prozess weitere politische Akteure wie das Parlament und die Stimmberechtigten ins Spiel», so Wasserfallen. Zwei neue Mitglieder könnten daher gemäss dem Berner Politologen durchaus eine neue Dynamik im Bundesrat auslösen.
Unterschiede bei Dringlichkeit
Zwar unterscheiden sich die vier Kandidatinnen und Kandidaten in ihren Positionen beim EU-Dossiers für Wasserfallen nicht gross im Vergleich zu ihren Parteien. So vertreten Hans-Ueli Vogt und Albert Rösti klare SVP- und Elisabeth Baume-Schneider und Eva Herzog klare SP-Positionen.
«Aber sie unterscheiden sich möglicherweise in ihrer Dringlichkeit, eine Lösung mit der EU zu finden», sagte der Politikwissenschaftler und verweist auf die Baslerin Eva Herzog, die als Vertreterin eines Grenzkantons schnell eine Lösung mit der EU anstreben möchte. Herzog bestätigte eine entsprechende Frage am vergangenen Donnerstag in der Sendung «Rendez-vous am Mittag» im Deutschschweizer Radio SRF.
«Ebenfalls von Bedeutung könnte eine grössere Departementsrochade für das EU-Dossiers sein», sagte Wasserfallen. Obwohl am Schluss der Gesamtbundesrat die nächsten Schritte mit der EU verantworte, könnte ein Wechsel im Aussendepartement neue Impulse geben und neue Akzente setzen, die sich auch auf die Verwaltung auswirken dürften – etwa auf die neu gegründete Steuerungsgruppe.
Die Zeit drängt
In dieser Steuerungsgruppe sind alle Departemente vertreten und zwar durch «Vertrauenspersonen aller Departementsvorsteher*innen sowie der Bundeskanzlei», wie es in der Medienmitteilung heisst. Das sei bemerkenswert, findet Politologe Wasserfallen. Und: «Dadurch, dass es sich um Vertrauenspersonen handelt, werden alle Bundesrätinnen und Bundesräte im EU-Dossiers direkt in die Pflicht genommen.»
Im ebenfalls neu geschaffenen «Sounding Board» würden hingegen die Sozialpartner in die Gespräche mit der EU eingebunden. Damit sichere sich der Bundesrat innenpolitisch ab. «Schlussendlich könnte also auch gegenüber der Verhandlungspartnerin EU ein Departementswechsel hilfreich sein.»
Doch die Zeit drängt: Denn nach den Bundesratswahlen werden die neu gewählten Magistraten einige Monate brauchen, sich in ihre Dossiers einzuarbeiten. Ab Frühsommer 2023 werden dann die Parteien wegen der eidgenössischen Wahlen im Herbst allmählich in den Wahlkampfmodus wechseln: Die EU dürfte dann noch mehr zum Politikum werden als sie es bis jetzt schon ist.
Im darauffolgenden Jahr, 2024, stehen die Europawahlen an, und die EU wird bis in den Herbst hinein mit sich selbst beschäftigt sein. Im schlechtesten Fall könnte sich der Verhandlungsbeginn damit bis 2025 verzögern.
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