Krisen der Gegenwart, Teil 2/2 Frau Gentinetta, sind wir noch zu retten?

Von Anna Kappeler

2.9.2022

Russische Raketen haben zu Beginn des Krieges ein Wohnhaus in Kiew getroffen. «Wir kommen nicht umhin, uns zu überlegen, wie wir die Neutralität in einer Welt, in der sich Demokratien und Autokratien gegenüberstehen, leben wollen», sagt Politikphilosophin Katja Gentinetta.
Russische Raketen haben zu Beginn des Krieges ein Wohnhaus in Kiew getroffen. «Wir kommen nicht umhin, uns zu überlegen, wie wir die Neutralität in einer Welt, in der sich Demokratien und Autokratien gegenüberstehen, leben wollen», sagt Politikphilosophin Katja Gentinetta.
Bild: Keystone

Kaum ist die Corona-Pandemie überstanden, überfällt Russland die Ukraine. Die Klimakrise hat sich diesen Sommer besonders stark gezeigt – und im Winter droht ein Energiemangel. Was tun? Politikphilosophin Katja Gentinetta hat Antworten. Und Zuversicht.

Von Anna Kappeler

Der erste Teil dieses Interviews ist hier erschienen.

Frau Gentinetta, muss die Schweiz die Neutralität neu denken?

Das ist eine schwierige Frage. Sicher wäre es falsch, ein aussenpolitisches Konzept, das sich bisher bewährt hat, in einer Krise kopflos über Bord zu werfen. Andererseits hängt die Antwort davon ab, wie die nächste Weltordnung aussieht.

Aber auch hier geht es nicht ohne einen weiten Blick zurück. Einst gab es die Pax Romana, später die Pax Britannica, jüngst die Pax Americana, die zunehmend ins Strudeln gerät. Folgt nun die Pax Sinica, also Chinas Vormacht? Wir wissen es nicht. Wir kommen nicht umhin, uns zu überlegen, wie wir die Neutralität in einer Welt, in der sich Demokratien und Autokratien gegenüberstehen, leben wollen.

Heisst?

Meine Vermutung geht dahin, dass zumindest in Sachen Wirtschaft eine «opportunistische Neutralität» nicht mehr im gleichen Mass möglich sein wird.

Dann ist aber das Geschäftsmodell Schweiz am Ende?

So absolut würde ich das nicht sagen. Aber die Wirtschaft ist nicht mehr unschuldig. Das sieht man auch am Rückzug zahlreicher Firmen aus Russland. Das betrifft auch die Schweizer Wirtschaft.

«Die Wirtschaft ist nicht mehr unschuldig. Das betrifft auch die Schweizer Wirtschaft.»

Geht das auf Kosten unseres Wohlstands?

Gut möglich. Darauf müssen wir uns einstellen. Um nochmals auf unsere verschiedenen Generationen zu sprechen zu kommen: Wir haben in den letzten Jahrzehnten vieles mit Geld gelöst.

Kapitalismuskritik von Ihnen?

Nein. Ich meine die Geldpolitik und Fiskalpolitik – eine Demokratie mittels Geschenke. Wir haben alles gelöst, indem wir Geld eingeschossen haben. Paradebeispiel: Corona. Und jetzt ist schon von Energiesubventionen die Rede. Mit der Inflation kommt diese Methode an ihre Grenze.

Zur Person
zVg

Katja Gentinetta (*1968) ist seit über zehn Jahren selbstständige Politik- und Wirtschaftsphilosophin. Die promovierte Philosophin lehrt an den Universitäten Luzern und Zürich, ist Verwaltungsrätin, Mitglied des Aufsichtsrats des IKRK und Präsidentin des Stapferhaus. Sie hat mehrere Bücher publiziert, zuletzt als Mitherausgeberin von «Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert» (NZZ Verlag 2021). Im Juni 2022 erschien ihr Essay «Streitfrage Wachstum» (Westend-Verlag).

Lassen Sie uns einen Schritt weitergehen. Wo sind in einer demokratischen Gesellschaft die Grenzen der Toleranz?

Ein demokratischer Rechtsstaat lebt vom offenen Diskurs. Es gelten Rechte, Pflichten und Normen. Werden diese Normen verletzt, stösst die Toleranz an ihre Grenzen. Toleranz gegenüber Intoleranz geht nicht.

Wann schadet eine querdenkende Minderheit der Demokratie?

Dann, wenn Grundrechte und Verfassung verletzt werden.

Was, wenn mächtige Leute wie Donald Trump diese Grundrechte bewusst dauernd verletzen?

Dann ist das ein klares Zeichen dafür, dass sie die demokratische Ordnung in ihren Grundfesten erschüttern wollen.

Die Gefahr: Werden Grundrechte dauernd verletzt, stumpfen wir als demokratische Gesellschaft ab. Was tun dagegen?

Es gibt immer noch Fakten. Es gibt immer noch eine Realität. Und es gibt immer noch wissenschaftliche Erkenntnisse. Wer das komplett negiert, muss im offenen Diskurs zurechtgewiesen werden.

Einverstanden. Aber was entgegnen, wenn solche Argumente jemanden oder eine Gruppe nicht mehr erreichen?

Wenn der Skeptizismus so weit geht, dass nicht einmal mehr das Offensichtlichste als Faktum anerkannt wird, hat man die Aufklärung falsch verstanden.

Und die Folge ist die Spaltung der Gesellschaft?

Diese Diagnose teile ich nicht. Wir haben es nicht mit einer Spaltung der Gesellschaft zu tun, sondern mit einer Abspaltung einer sehr lauten und medial überproportional Gehör findenden Minderheit.

Medienkritik muss sein.

Darf in diesem Fall sein, ja. Die Medien sind in der Pflicht, die Balance zwischen Experten und selbsternannten Skeptikern zu halten. Es darf zu keiner Gleichsetzung kommen, sonst haben wir es mit einer False Balance, einer falschen Ausgewogenheit, zu tun. Verschwörungstheorien werden propagiert, und sie sind mit politischen Zielen verbunden. Neu ist, dass sie über die sozialen Medien derart breit und vor allem auch psychologisch gezielt in den öffentlichen Diskurs eingreifen. Das ist eine echte Herausforderung für die Demokratie. Denn die auf diese Weise Mobilisierten gehen auch an Urnen.

«Neu ist, dass Verschwörungstheorien über die sozialen Medien psychologisch gezielt in den öffentlichen Diskurs eingreifen.»

Es gibt den Punkt in einer Demokratie, an dem man gewissen Leuten keine Plattform mehr geben soll?

Zumindest müssen Verschwörungstheorien und das Verhalten ihrer Propaganten auf einer Metaebene erklärt und eingeordnet werden.

Wo muss die demokratische Gesellschaft umdenken?

Eine Demokratie setzt eine informierte Gesellschaft voraus. Die Gefahr heute ist, dass sich ein immer grösserer Teil der Gesellschaft zunehmend über fragwürdige Kanäle informiert. Das Perfide an Verschwörungstheorien ist, dass sie für sich die Methoden der Aufklärung in Anspruch nehmen – kritisches Hinterfragen, eigenes Nachdenken – und das aber pervertieren. Vielleicht muss man auch hier, analog zur Verfügung durch Verschwörungstheorien, bei der Psychologie des Einzelnen ansetzen.

Was kann ich als Individuum tun?

Vielleicht versuchen, Personen nicht über die argumentative Ebene, sondern über die emotionale abzuholen? Aber das ist nicht mein Gebiet.

«Ein Realitätscheck tut Not: Ja, der Energiemangel wird uns alle etwas kosten. Wir müssen Energie sparen.»

Die viel gepriesene Eigenverantwortung scheint in der Krise zu einem «Me first» zu werden. Mit Blick auf den Winter: Geht es künftig nur noch mit staatlich verordneten Einschränkungen, die uns wehtun?

Womit wir wieder beim Naturzustand des Menschen nach Hobbes wären … Auch hier tut ein Realitätscheck Not: Ja, der Energiemangel wird uns alle etwas kosten. Wir müssen Energie sparen. Wahrscheinlich sind 22 Grad zu Hause wirklich zu warm – und auf 18 Grad heruntergekühlte Hotelzimmer im Sommer zu kalt.

Beides dünkt mich, verglichen mit den kämpfenden Ukrainerinnen, verkraftbar.

Allerdings. Aber irgendwann kommt die Rechnung immer. Und je später sie kommt, umso dicker ist sie.

Der Planet droht vor die Hunde zu gehen, Stichwort Klimawandel. Wie zuversichtlich sind Sie, was die Vernunft der Menschheit angeht?

Sehr zuversichtlich – ich bin eine Philosophin!

Letzte Frage: Sind wir noch zu retten?

Absolut. Wir haben bisherige Krisen überstanden und daraus gelernt. Deshalb auch hier: Wir retten und erhalten uns – und unseren Planeten.