Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss«Die Ungleichheit in der zweiten Säule ist dramatisch»
von Alex Rudolf
17.9.2022
In gut einer Woche stimmt die Schweiz über die Revision der AHV ab. Die ehemalige Innenministerin Ruth Dreifuss erinnert sich an das letzte Mal, als die AHV neu aufgestellt wurde – es war das Jahr 1997.
Was machten die Befürworter*innen der Reform im Abstimmungskampf 1997 richtig? Die zehnte Revision der AHV brachte – wie alle neun vorherigen, die in einem durchschnittlichen Fünfjahresrhythmus stattfanden – mehrere Verbesserungen für die Frauen und für Menschen mit tiefen Einkommen. Die Reform war schon in ihren Ursprüngen stark von den Forderungen der Gewerkschaften, der Personen, die sich für die Gleichstellung von Frau und Mann einsetzten und von den Sozialdemokraten geprägt. Im Parlament war die Vorlage breit abgestützt.
Seither schaffte es keine Vorlage mehr am Volk vorbei: warum? Der Wille zu einem breit abgestützten Konsens hat nachgelassen. Die Wichtigkeit der AHV in der Bekämpfung der Altersarmut wird verdrängt von den hochgespielten finanziellen Fragen.
In einem offenen Brief wandten Sie sich damals ans Volk und verwiesen darauf, dass sich die Erhöhung des Frauenrentenalters von 62 auf 64 nicht aufdränge. Entgegen der Meinung des Bundesrats. Warum brachen Sie mit dem Kollegialitätsprinzip? Weil die Erhöhung des Rentenalters der Frauen im letzten Moment als Retourkutsche für die Realisierung einiger Forderungen vom Parlament beschlossen wurde. Zudem verbreiteten viele Angstmacherei über die finanzielle Sicherheit der AHV. Mein offener Brief war in erster Linie eine Antwort auf die Schlagzeile des «Blick», die ungefähr so lautete: Bald werden die Renten nicht mehr ausbezahlt werden können.
Heute äussern Sie sich nicht mehr zur AHV. Gegen die 11. AHV-Revision kämpften Sie noch an, 2017 sprachen sie sich für die Revision aus. Was ist 2022 anders? Als Bundesrätin hatte ich noch eine 11. Revision vorgeschlagen, die neben der Erhöhung des Rentenalters für Frauen auch wesentliche Verbesserungen der Leistung enthielt. Meine Haltung entstand aus der Enttäuschung, dass keine dieser Verbesserungen angenommen wurden. Im Prinzip halte ich mich an die Regel, dass ehemalige Bundesräte und Bundesrätinnen sich nicht öffentlich gegen Beschlüsse der Regierung stellen. Dies sollte man noch weniger tun, wenn es sich um Vorlagen handelt, die das ehemalige Departement betreffen. Bei der Vorlage «Altersvorsorge 2020» unterstützte ich den Bundesrat und fand, dass es dem Parlament gelungen war, eine ausgewogene Revision zu erarbeiten, weil sie nicht nur die AHV, sondern auch die zweiten Säule betraf. In dieser ist die Ungleichheit der Geschlechter dramatisch.
Bei der 10. AHV-Revision waren die Linken mit an Bord aufgrund der Erziehungsgutschriften. Wann ist eine Verbesserung der AHV für Frauen so gut, dass sie eine Rentenalter-Erhöhung legitimiert? Sie soll nicht nur eine vorübergehende Kompensation für die Frauen, die ein Jahr länger arbeiten müssen, beinhalten, sondern auch dauerhafte Massnahmen zur Gleichstellung und zur Bekämpfung der Altersarmut bringen. Besonders in der zweiten Säule.
Dem «Blick» sagten Sie im Dezember 2021, dass die AHV nicht in Gefahr sei, es aber bislang alle rund fünf Jahre eine Revision gegeben habe. Warum hadert die Politik derart mit Revisionen? Die zehn Revisionen der AHV haben sie nicht geschwächt, sondern verstärkt in der Realisation des verfassungsmässigen Auftrags, den Existenzbedarf zu sichern. Jede Revision konnte ohne Verzögerung allen Rentnern zugutekommen. Es liegt eben im Wesen dieser Versicherung, dass wenn notwendig und wenn der politische Wille da ist, Reformen sehr rasch stattfinden können.