Endemische Phase «Die Uhr wird zurück auf null gestellt»

Von Lia Pescatore

17.1.2022

Zurück auf null: Für Virologe Volker Thiel ist der Übergang in die breite Immunität mit vielen offenen Fragen und Unsicherheiten verbunden. 
Zurück auf null: Für Virologe Volker Thiel ist der Übergang in die breite Immunität mit vielen offenen Fragen und Unsicherheiten verbunden. 
KEYSTONE (Symbolbild)

Virologe und Taskforce-Mitglied Volker Thiel erwartet nach dem Winter eine breite Immunität in der Bevölkerung. Ob diese im Leben mit dem Virus eine grosse Entspannung bringt, ist für ihn jedoch noch unsicher.  

Von Lia Pescatore

17.1.2022

Bundesrat Alain Berset brachte die Endemie am letzten Mittwoch zum ersten Mal ins Spiel. Und auch an einer Medienkonferenz am Freitag beharrte er auf seiner Aussage: Es sei gut möglich, dass sich die Schweiz im Übergang zur endemischen Phase befände. 

Alain Berset: «Vielleicht ist Omikron der Anfang vom Ende»

Alain Berset: «Vielleicht ist Omikron der Anfang vom Ende»

Gesundheitsminister Alain Berset hat am Mittwoch dazu aufgerufen, in Anbetracht der hohen Corona-Infektionszahlen weder Entwarnung zu geben noch in Alarmismus zu verfallen. «Vielleicht ist Omikron der Anfang vom Ende», sagte Berset. «Vielleicht wird aus der Pandemie eine Endemie».

12.01.2022

Gleichzeitig warnt die wissenschaftliche Taskforce von einer grösseren Hospitalisierungswelle. Virologe Volker Thiel, Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce, erwartet darum auch, dass es in den nächsten Wochen «holprig» wird. Die grosse Menge an Ansteckungen im Ausland mache ihm Sorgen, er sieht aber auch Grund zum Optimismus: «Nach dem Winter ist der überwiegende Grossteil der Bevölkerung immun, sei es durch die Impfung oder durch Infektionen», sagt er.



Damit werde «die Uhr zurück auf null gestellt» – das heisst, es müsse nun neu geklärt werden, wie sich das Virus auf die Gesellschaft und den Einzelnen auswirke, sobald eine breite Immunität erreicht ist. So verstehe er auch die Aussage von Alain Berset: Ein neues Kapitel werde aufgeschlagen, «das kann man auch den Übergang in die endemische Lage nennen», sagt Thiel.

«Omikron ist in vielen Ländern in der älteren Bevölkerung noch nicht angekommen.»

Volker Thiel

Virologe

Die Gesellschaft müsse sich damit befassen, wie man in Zukunft mit dem Virus leben will. «Damit stellen sich grundsätzliche Fragen», sagt Thiel, zum Beispiel, wie man mit der Zertifikatspflicht weiterfahren wolle und wie es mit der Impfung weitergehen werde. Auch eine totale Aufhebung der Isolation und Quarantäne sei in Zukunft eine Option.

Doch noch sei es zu früh. Zu viele Fragezeichen seien offen, gerade wie sich das Virus auf der individuellen Ebene auswirken wird – zum Beispiel bei den älteren Menschen.

«Omikron ist in vielen Ländern in der älteren Bevölkerung noch nicht angekommen», das Virus grassiere momentan vor allem in der aktiven Bevölkerung, die zur Arbeit geht und regelmässige Kontakte hat, sagt Thiel. Auch weitere Mutationen und weitere Varianten, und damit auch solche, die schwerere Erkrankungen hervorrufen, seien in Zukunft nicht auszuschliessen. 



Die Annahme liege jedoch nah, dass Sars wie andere respiratorische Viren saisonal sein wird, «dass wir im Winter mehr Virusbelastungen haben als im Sommer», so Thiel.

«Eine Impfung vor dem Winter, wie dies bei Influenza die Praxis ist, wäre eine gute Option.»

Volker Thiel

Virologe

«Die jetzige Welle wird uns wohl noch bis Ende Winter begleiten», dann sei es besonders wichtig, Vorbereitungen für den nächsten Winter zu treffen. «Dieser könnte eine erste Blaupause dafür sein, was uns in den kommenden Jahren erwartet», sagt Thiel. Besonders entscheidend für einen glimpflichen Verlauf für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft, sei der Immunschutz.

«Eine Impfung vor dem Winter, wie dies bei Influenza die Praxis ist, wäre eine gute Option», sagt er. Er geht davon aus, dass es sich dabei bereits um eine auf Omikron abgestimmte Impfung handeln wird. Die Impfung werde im Umgang mit dem Virus auch in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle spielen. Es gebe nur wenige andere Optionen, um sich zu schützen.

Zwar würden nun nach und nach auch Medikamente zugelassen, «diese werden aber nicht in grossen Massen produziert werden können und darum wohl hauptsächlich für Risikopatienten verfügbar sein», so die Einschätzung des Virologen. Dass man nun lernen müsse, mit dem Virus zu leben, sei aber unumgänglich: «Wir können offensichtlich nichts dagegen tun, dass das Virus auch in Zukunft unter uns sein wird.»