Interview zur Herbstsession «Die Schweizer Politik erinnert mich an ‹Gute Zeiten, schlechte Zeiten›»

Von Anna Kappeler

22.9.2020

Und dazwischen das Plexiglas: Nationalrätin Tiana Angelina Moser (GLP/ZH) diskutiert mit Nationalrat Roger Nordmann (SP/VD).
Und dazwischen das Plexiglas: Nationalrätin Tiana Angelina Moser (GLP/ZH) diskutiert mit Nationalrat Roger Nordmann (SP/VD).
Bild: Keystone

In der laufenden Herbstsession dominiert noch immer das Coronavirus. Was das mit der Schweizer Demokratie macht und wo das Parlament wie eine Langzeit-Romanze wirkt, sagt Politologe Sean Müller im Interview.

Herr Müller, auffällig diese Herbstsession: Hauptthema bleibt – trotz Sonder- im Mai und Sommersession im Juni – das Coronavirus. Ist das ein Problem?

Ja und nein. Es ist ein Problem, weil sich die Arbeit anstaut und das Parlament beim Abarbeiten nicht nachkommt. Die Folge: Volksinitiativen, Petitionen, Motionen und so weiter müssen verlängert werden, weil sie schlicht noch nicht behandelt werden konnten. Das ist nicht Sinn und Zweck unserer Demokratie. Auf der anderen Seite: Das Parlament reguliert sich selber. Und kann die Bearbeitungsdauer verlängern.



Die ohnehin schon langsamen Mühlen der Politik mahlen noch langsamer?

Das ist nicht nur schlecht. Für die Schweiz ist ein Entscheid, der ‹verhebet›, wichtiger als ein übereilter, gegen den das Referendum ergriffen wird, und so alles zurück auf Feld 1 geht. Denken Sie an Grossbritannien: Dort gab es während des Brexits alle paar Wochen einen U-Turn, weil man merkte, dass der eingeschlagene Weg nicht funktionierte. Und: Wie viele Krisen erlebte die Schweiz in den letzten 30 Jahren, die mit der Coronapandemie vergleichbar sind?

Keine.

Eben. Nicht einmal die Wochen nach dem ERW-Nein rüttelten das Land dermassen durch wie dieses Virus jetzt.

Es gibt Politiker*innen, die es ‹staatspolitisch heikel› finden, wenn persönliche Vorstösse verschoben werden. Wie wichtig sind Einzelvorstösse und wie stark geht es dabei um persönliche Interessen?

Zur Person
Bild: ZvG

Sean Müller ist seit Februar 2020 Assistenzprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Lausanne. Dieser Tage erscheint Müllers Buch «Der Ständerat. Die Zweite Kammer der Schweiz» im Handel, das er zusammen mit Politologe Adrian Vatter geschrieben hat.

Persönliche Vorstösse dienen immer dem persönlichen Profilieren. Es geht den Politiker*innen damit auch darum, diese auf der eigenen Website auflisten zu können im Sinne von: Schaut her, liebe Wählende, wofür ich mich einsetze. Tatsache ist: Einzelvorstösse haben kaum Chancen. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass die Mitparlamentarier den Gspänli einen solchen Erfolg missgönnen. Vorstösse sind dann erfolgreich, wenn sie von Mitte-Fraktionen oder Kommissionen kommen.

Gestern Montag zählte das Programm im Ständerat sechs Seiten. Darunter finden sich Einzelvorstösse wie jener zu geschlossenen Campingplätzen, datiert vom 4. Mai. Der Bundesrat antwortete am 1. Juli, diese seien wieder offen. Warum stehen solche Vorstösse noch immer auf dem Programm?

Die Schweiz ist nun einmal sehr demokratisch. Eine Einzelperson kann unsere Verfassung ändern, sofern sie mit der Idee durchkommt. Das ist doch toll – und wichtig zum Schutz von Minderheiten. Hier ist die Schweiz schon fast anarchistisch.

Nachdem ein Vorstoss von der Realität überholt wurde, könnte das Büro des Rates ihn doch für mehr Effizienz von der Traktandenliste streichen?

Eben nicht. Um einen eingereichten Vorstoss zu streichen, braucht es einen Mehrheitsentscheid des Plenums. Alles, was irgendwann einmal in der Pipeline landet, muss behandelt werden. Es sei denn, der oder die Urheberin des Vorstosses verstirbt und niemand übernimmt das Anliegen.

Besteht nicht die Gefahr, dass sich das Parlament dadurch in Details verzettelt?

So funktioniert unsere Demokratie. Und oft kommt es bei solchen Vorstössen nicht zu einer Debatte, sondern der Rat nimmt sie stillschweigend zur Kenntnis.

Ist das Schweizer Politsystem mit seinen viermal drei Wochen Session pro Jahr zeitgemäss?

Bis anhin gab es keine Probleme damit. Und solange etwas funktioniert, kann man es ja beibehalten. Es ist aber schon so, dass der Nationalrat fast jedes Jahr eine Sondersession braucht, weil er verglichen mit dem kleineren Ständerat nicht nachkommt.

«Eine Einzelperson kann unsere Verfassung ändern, sofern sie mit der Idee durchkommt. Das ist doch toll – und wichtig zum Schutz von Minderheiten.»

Auch, weil die grosse Kammer manchmal vor allem für die Galerie politisiert?

Das ist so. Für die Galerie – und für die Journalist*innen. Die wichtige inhaltliche Arbeit geschieht ohnehin vorher in der Kommission. Dort wird inhaltlich gerungen, dort werden Expert*innen und Lobbyist*innen angehört. Nichtsdestotrotz: Auch die Politik für die Galerie im Rat selber ist wichtig, weil nur hier und dadurch eine Öffentlichkeit geschaffen wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Fragestunde, in der Parlamentsmitglieder dem Bundesrat Fragen stellen können. Ich gehe da jeweilen hin mit meinen Studierenden. Es ist dann zwar kaum ein Nationalrat im Saal anwesend, doch gerade für Parlamentsneulinge ist die Fragestunde eine gute Übung, zum ersten Mal das Wort im Plenum zu ergreifen. Reden in einem symbolträchtigen Raum mit 200 gewählten Mitgliedern aus der ganzen Schweiz inklusive zahlreichen Journalisten muss gelernt werden.

Nur ist es ja nicht so, dass die anderen Parlamentarier*innen an den Lippen der sprechenden Person kleben …

Die Schweiz ist nicht weltbekannt für spannende Debatten, nein. Kommt dazu, dass wir auch einfach schlechte Rhetoriker haben, einige wenige Personen wie Roger Köppel oder einige Politiker*innen aus der Romandie einmal ausgenommen.

«Es kommt immer wieder zu kleinen Aufregungen, doch nie brennt das ganze Haus ab, nie wird jemand ermordet. Und, lassen Sie mich festhalten: Das ist gut so!»

Sie wünschten sich mehr Debatten wie in Grossbritannien mit dem früheren Unterhaus-Speaker John Bercow?

Jein. Diese waren zwar spannend, aber auch beängstigend. Und politisch nicht zielführend. Jene Brexit-Episoden waren fesselnd wie ein guter Thriller. Niemand wusste, wie es weiterging. Die Schweizer Politik erinnert mich dagegen an die Serie ‹Gute Zeiten, schlechte Zeiten›. Die plätschert nach dem immer gleichen Muster vor sich hin. Es kommt immer wieder zu kleinen Aufregungen, doch nie brennt das ganze Haus ab, nie wird jemand ermordet. Und, lassen Sie mich festhalten: Das ist gut so! Das spricht für eine funktionierende, stabile Demokratie. Wer will schon Zustände wie in Russland, wo Oppositionspolitiker einfach vergiftet werden?

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