Risse im Paradies Warum ich immer über Schweizer Merkwürdigkeiten stolpere

Von Andreas Fischer, Leipzig

29.4.2023

Zeigt das Bild das Paradies? Oder ist in der Schweiz doch nicht alles Gold, was glänzt?
Zeigt das Bild das Paradies? Oder ist in der Schweiz doch nicht alles Gold, was glänzt?
IMAGO/Zoonar

Alles sicher, (fast) immer stabil, und gutes Geld kann man auch verdienen: Die Schweiz müsste eigentlich ein Paradies sein. Doch der deutsche Autor stolpert über einige Eigenheiten, die ihn zweifeln lassen.

Von Andreas Fischer, Leipzig

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Von aussen betrachtet ist die Schweiz ein Sehnsuchtsort, jedenfalls was Verdienstmöglichkeiten und politisches System angeht.
  • Doch bei genauem Hinsehen entdeckt man einige Eigenheiten, die am Image der Perfektion rütteln.
  • Unser deutscher Autor fragt sich deshalb, ob die Schweiz wirklich ein Paradies ist.

Die Eigenverantwortung ist gross, der Staat ist schlank, Politik wird im Konkordanzsystem und mit dem Kollegialitätsprinzip gemacht, das Volk bestimmt direkt mit. Ausserdem sind die Einkommen viel höher und die Steuern viel niedriger: Aus Deutschland betrachtet, könnte man meinen, die Schweiz ist das Paradies auf Erden.

Ich arbeite seit 2015 für blue News, recherchiere und schreibe viel über Schweizer Themen: Politik, Wirtschaft, Umwelt und auch mal über das Wetter. Natürlich, ich bin schliesslich Deutscher, tue ich das mit einem Blick von aussen. Dabei fällt mir hin und wieder auf, dass die paradiesische Schweiz vielleicht doch nur ein Mythos ist. Auf jeden Fall aber ist sie nicht so perfekt, wie es auf den ersten Blick scheint.

Bitte nicht falsch verstehen: Ich halte auch Deutschland keinesfalls für einen Garten Eden. Und dennoch gibt es einige Schweizer Eigenheiten, über die ich gestolpert bin.

Warum werden Ehepaare «bestraft»?

Zuletzt hat mich der Begriff «Heiratsstrafe» stutzig gemacht. Sie solle endlich abgeschafft werden, fordert der Schweizerische Arbeitgeberverband mit Blick auf den zunehmenden Arbeitskräftemangel.

Ich kann ja lesen, auch Gesetzestexte und Beschlüsse. Manchmal muss ich aber doch bei Kolleg*innen nachfragen: Gibt’s das wirklich? Eine «Heiratsstrafe»?

Ich habe gelernt, dass verheiratete Paare in der Schweiz, ganz anders als in Deutschland, unter Umständen bei den Steuern schlechter gestellt sind als unverheiratete Paare. Die Folge: Es lohnt sich in der Schweiz manchmal nicht, wenn beide Ehepartner arbeiten gehen.

Immerhin ist die individuelle Besteuerung für alle Schweizerinnen und Schweizer in Arbeit. Der Bundesrat hat eine entsprechende Vorlage im Dezember in die Vernehmlassung gegeben, die Mitte März beendet wurde. 

Bis der Bund und vor allem die Kantone die Individualbesteuerung in Recht umgesetzt haben, wird es noch etwas dauern. Bis dahin stellt sich mir die Frage, wer in einer Ehe wegen der «Heiratsstrafe» wohl das Geld verdient und wer zu Hause bleibt? Und das führt mich gleich zum nächsten Punkt.

Warum dürfen Papis die Kinder nicht erziehen?

Chancengleichheit der Geschlechter? Es hat 30 vergebliche Anläufe gebraucht und bis 2021 gedauert, ehe Väter in der Schweiz nach der Geburt eines Kindes Anspruch auf bezahlten Urlaub hatten. Das ist nicht viel, aber immerhin. Vorher war der Nachwuchs ausschliesslich Frauensache, jetzt gibt es wenigstens einen Hauch von «Papi-Zeit».

Es liesse sich natürlich einwenden, dass es in Deutschland gar keinen Vaterschaftsurlaub gibt. Aber: Ich habe bei meinen beiden Kindern jeweils ein halbes Jahr Elterngeld vom Staat bekommen. Ich blieb zu Hause und kümmerte mich um die Mädchen, während meine Partnerin ihre Karriere verfolgen konnte.

Warum werden Mamis nicht geschützt?

«Du musst im Prinzip bis zur Entbindung schaffen gehen, und nach ein paar Wochen wieder mit vollem Einsatz bereitstehen», erklärte mir eine Schweizer Bekannte sinngemäss, was auf (werdende) Mütter in der Schweiz zukommt. Mutterschutz? Fehlanzeige.

Zum Vergleich: In Deutschland haben Frauen ab sechs Wochen vor der Geburt bis acht Wochen nach der Geburt ein Beschäftigungsverbot (ausser sie wollen ausdrücklich weiter arbeiten). Klar, auch in der Schweiz gibt es seit 2005 einen Rechtsanspruch auf 14 Wochen Mutterschaftsurlaub ab dem Tag der Entbindung, also genauso viel wie in Deutschland. Allerdings nur bei 80 Prozent des vorherigen Einkommens.

In Deutschland gibt es während der 14 Wochen das ganze Geld. Kommt hinzu staatliches Elterngeld bis mindestens zwölf Monate nach der Geburt, besonderer Kündigungsschutz, Recht auf Teilzeitarbeit sowie eine unbezahlte Elternzeit von bis zu 36 Monaten (mit Recht auf Weiterbeschäftigung im Anschluss).

Warum ist Kinderbetreuung so teuer?

Noch eine Schweizer Merkwürdigkeit, über die ich gestolpert bin: Ein zweites Einkommen lohnt sich finanziell kaum, wenn die Kinder in einer Kita betreut werden. Wenn eine Familie mit zwei Kindern ihre Sprösslinge für zwei Tage pro Woche in die Kita gibt, zahlt sie bis zu 20'000 Franken im Jahr dafür, las ich in einer Studie (PDF-Download).

Freilich kann man das Betreuungssystem in Deutschland und der Schweiz nicht 1:1 vergleichen. Aber als meine beiden Töchter in jenem Alter, in dem Schweizer Kinder im Kita-Alter sind, um einiges günstiger betreuen lassen. Und zwar für rund 180 Euro – im Monat. Für zwei Kinder, wohlgemerkt.

Die Kinder waren dann im Kindergarten (nicht dasselbe wie der Schweizer Kindergarten) und im Schulhort betreut. Den ganzen Tag, die ganze Woche. Und die beiden Eltern konnten ihrer Arbeit nachgehen. Ob sich das lohnt, die Frage erübrigt sich bei den Betreuungskosten in Leipzig von vorneherein.