Label-Dschungel Lidl und Migros bewerten neu die Tierfreundlichkeit ihrer Produkte

Von Lia Pescatore

12.5.2021

Was in der Werbung gezeigt wird, ist das eine, die Realität eine andere. Die Detailhändler Migros und Coop wollen den Kunden transparenter machen, wie es bei der Herstellung der Produkte um das Tierwohl steht.
Was in der Werbung gezeigt wird, ist das eine, die Realität eine andere. Die Detailhändler Migros und Coop wollen den Kunden transparenter machen, wie es bei der Herstellung der Produkte um das Tierwohl steht.
Keystone/Laurent Gillieron

Mit Trends wie Veganismus und Nachhaltigkeit rückt beim Kaufentscheid auch das Tierwohl in den Fokus. Detailhändler wollen Klarheit schaffen für ihre Kundschaft, wählen dafür aber unterschiedliche Wege.

Von Lia Pescatore

Wenn es um Labels geht, herrscht in den Schweizer Lebensmittelläden ein Dschungel. Jeder Detailhändler hat seine eigens entwickelten Siegel mit eigenen Richtlinien. Einheitliche Labels, die es in verschiedenen Läden zu finden gibt, sind rar. Und immer wieder kommen neue Gütesiegel dazu, neuerdings etwa zum Thema Tierwohl. Sowohl Lidl als auch Migros sind mit einem Tierwohl-Rating gestartet. Kunden sollen so auf den ersten Blick erfahren, welche tierischen Produkte tierfreundlicher hergestellt worden sind und welche weniger. 

Die Kundschaft stufe den Faktor Tierwohl als besonders relevant ein, begründet Migros auf Anfrage ihre neue Innovation. Beide Detailhändler betonen, dass es eben nicht darum gehe, den Label-Dschungel weiter zu verdichten, sondern dem Kunden mehr Transparenz und Klarheit zu bieten.

Zwei verschiedene Systeme, zwei verschiedene Partner

Klarheit durch Einheit schaffen die beiden Detailhändler nicht: Die beiden Ratings kommen in verschiedenen Optiken daher, während Lidl die Produkte in Kategorien von A bis D ähnlich wie bei der Bewertung der Energie-Effizienz von Kühlschränken einstuft, hat sich die Migros von Sterne-Rankings inspirieren lassen, wie es zum Beispiel bei der Bewertung von Hotels üblich ist.

Auch die Systeme hinter der Bewertung sind unterschiedlich, denn die beiden Unternehmen haben mit unterschiedlichen Partnern zusammengearbeitet. Lidl hat sich für eine Zusammenarbeit mit dem Schweizer Tierschutz (STS) entschieden.  Das System musste nicht mehr neu entwickelt werden. Denn der STS hat dieses vor einigen Jahren für die eigene Plattform «Essen mit Herz»  entwickelt, die bereits Informationen über Tierwohl-Standards von Produkten verschiedener Händler aufzeigt. Cesare Sciarra vom Schweizer Tierschutz begrüsst aber die Kooperation mit Lidl. «Die Leute schauen sich die Webseite ja meist nicht im Laden vor dem Regal an, da ist es natürlich besser, wenn die Bewertung gleich auf dem Produkt zu sehen ist», sagt er.

Die Migros habe das Bewertungssystem des STS auch geprüft, sagt sie auf Anfrage von «blue News». Sie seien aber zum Schluss gekommen, dass die Kooperation mit einer Agrarhochschule «sinnvoller» sei, da diese  «wissenschaftliche Ansätze kennt und als Organisation auch unabhängig ist und die notwendige Beständigkeit bietet». Das System wurde in Zusammenarbeit mit der HAFL, mit der Berner Fachhochschule für Agronomie, entwickelt.

Die Unabhängigkeit sei auch beim STS gewährt, betont Sciarra. Das vor der Zusammenarbeit entwickelte System für die Produktbewertung sei eins zu eins für die Produkte von Lidl übernommen worden. Da das System schon fertigentwickelt war, musste Lidl zudem nur für den zeitlichen Aufwand der eigentlichen Bewertung aufkommen. STS stellte Lidl zusätzlich eine Bedingung: «Sobald das Rating auf einem Produkt einer Art, also zum Beispiel Rindfleisch, erscheint, dann müssen auch alle Produkte derselben Kategorie dieses tragen», sagt Sciarra.

Bei Migros gibt es eine neutrale Mitte

Schaut man sich die berücksichtigten Kriterien der Systeme an, fallen die auf den ersten Blick sehr ähnlich aus, sie enthalten Punkte zur Tierhaltung, unter anderem, ob Auslauf möglich ist und wie die Luft- und Lichtverhältnisse sind, aber auch, ob regelmässig Kontrollen durchgeführt werden und wie der Transport gehandhabt wird. Der STS listet auf seiner Website mehr Punkte auf als die Migros. Die wirklichen Unterschiede würden am Ende vor allem durch die unterschiedliche Gewichtung resultieren, sagt Sciarra. Die Gewichtung wird sowohl bei der Migros als auch bei Lidl für jede Tiergattung und Produktart einzeln bestimmt.

Eine unterschiedliche Bewertung ergibt sich aber auch durch die gewählte Anzahl der Abstufungen. STS und Lidl hätten sich bewusst für eine gerade Anzahl entschieden, so Sciarra, um eine klare Grenze zwischen genügend und ungenügend ziehen zu können. Bei Migros sind es hingegen fünf Sterne, die maximal zu vergeben sind.

Während bei der Bewertung durch den STS eine Mehrheit der Schweizer Produkte, die die Schweizer Mindestvorgaben in Sachen Tierschutz gerade so erreichen, mit einem C bewertet werden, schaffen es Produkte mit denselben Voraussetzungen bei der Bewertung von Migros eher noch auf drei von fünf Sternen, werden also neutral bewertet.

Beide Systeme verfolgen den Grundsatz, dass Kategorien die tiefste Punktzahl erhalten, wenn keine belastbaren Informationen dazu vorhanden sind. So sei es zum Beispiel in der Kategorie der Schlachtung sehr schwierig, an Informationen zu kommen, sagt Sciarra. «Gerade bei ausländischen Produkten gehen wir da rigoros vor», betont Sciarra. Beim Bewertungssystem der HAFL wird die Schlachtung gar nicht berücksichtigt. Die Migros teilte mit, dass stets geprüft werde, ob weitere Kriterien einbezogen werden könnten.

Eine Unsicherheit bleibt bei der Bewertung

Sind solche Ratings überhaupt aussagekräftig? Sabina Graf, Tierhaltungsexpertin von Agridea, bejaht dies. «Das Tierwohl kann recht gut bewertet werden, da es viele wissenschaftliche Studien und Arbeiten zu artgerechtem Verhalten der meisten Nutztierarten gibt», sagt Graf. Eine gewisse Unsicherheit bleibe aber immer: Die Beobachtung des Verhaltens der Tiere könne zwar Aufschluss geben, aber letzten Endes könnten sich die Tiere nicht dazu äussern.

Gegen ein tierwohlspezifisches Rating entschieden hat sich Coop. Auf Anfrage sagt der Detailhändler, dass man bereits mit den vorhandenen Labels wie zum Beispiel Naturaplan die nötige Transparenz in Sachen Nachhaltigkeit schaffe. Zudem würden sie sich mit ihrem Nachhaltigkeitsengagement «Taten statt Worte» täglich für mehr Tierwohl einsetzen.

Migros und Lidl haben vorerst nur 100 Produkte mit ihrem jeweiligen Tierwohl-Rating versehen – aus Nachhaltigkeitsgründen. Es sollen keine Verpackungen wegen der Umstellung vernichtet werden. Weitere sollen nach und nach folgen.