Bundesrat unter Druck Knatsch beim Rahmenabkommen: Kommt nun Cassis' versprochener «Reset»?

Von Julia Käser

14.10.2020

Roberto Balzaretti und Bundesrat Cassis: Der Chefdiplomat soll in den Augen des Gesamtbundesrates zu nachgiebig sein – und deshalb ersetzt werden. 
Roberto Balzaretti und Bundesrat Cassis: Der Chefdiplomat soll in den Augen des Gesamtbundesrates zu nachgiebig sein – und deshalb ersetzt werden. 
Bild: Keystone

Verfahrene Situation beim EU-Rahmenabkommen: In der Schweiz hält sich die Kritik am Vertragsentwurf hartnäckig – nun soll sie Cassis' Chefdiplomaten Balzaretti den Posten gekostet haben. Ein Überblick. 

Das eindeutige Nein zur Begrenzungsinitiative wurde als klares Ja zum bilateralen Weg mit der EU gewertet. Zum Durchatmen hatte der Bundesrat aber kaum Zeit – denn seit der Abstimmung steht das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU (InstA) wieder ganz oben auf seiner Agenda. Und bringen FDP-Bundesrat Cassis ins Rudern. Die wichtigsten Punkte im Überblick. 

1
Welche Herausforderungen kommen auf den Bundesrat zu?

Der Bundesrat will die Verhandlungen rund um das Rahmenabkommen mit der EU wieder aufnehmen – für die EU sind diese jedoch abgeschlossen, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im September durchblicken liess. Kompromissbereiter gab sich jüngst der neue EU-Botschafter Petros Mavromichalis: «Die EU ist sehr wohl bereit zu einem Schritt – wenn der Bundesrat endlich klar sagt, was er genau will», betonte er im «TagesAnzeiger» (Artikel hinter Bezahlschranke)

Druck verspürt die Regierung beim InstA aber nicht nur von der EU. Auch im Inland sieht sie sich mit zahlreichen Forderungen konfrontiert. Kritische Stimmen finden sich sowohl im rechten als auch im linken Lager. Klärungsbedarf besteht vor allem beim Lohnschutz, aber auch bei den Themen staatliche Beihilfen und Unionsbürgerrichtlinie.

2
Was hat es mit der Kritik an Cassis' Chefdiplomaten auf sich?

Die innenpolitische Kritik hat Folgen: Laut einem Medienbericht vom Dienstag muss FDP-Bundesrat Cassis seinen EU-Chefunterhändler und erfahrensten Mitarbeiter Roberto Balzaretti fallen lassen. Dieser hatte 2018 das Rahmenabkommen mit der EU ausgehandelt. Der formelle Entscheid soll am Mittwoch fallen. Der Tessiner wäre schon der dritte Staatssekretär, der am Rahmenabkommen scheitert. 

Die Absetzung Balzarettis soll auf ein faktisches Veto des Bundesrats zurückgehen. Dieser soll Cassis zu verstehen gegeben haben, dass man die Personalie Balzaretti nicht länger unterstütze, weil er zu nachgiebig sei. Einspringen soll die Bündnerin Livia Leu Agosti, bislang Botschafterin in Frankreich. Leu wäre damit neu persönlich zuständig für das EU-Dossier. Ob sie auch die Verhandlungen selbst führen wird, ist noch nicht sicher. Klar ist: Mit dem Personalentscheid wird das EU-Dossier Cassis teilweise aus der Hand genommen.

3
Was hat es mit den Bedenken um den Lohnschutz auf sich?

Im Rahmen der Personenfreizügigkeit mit der EU wurden 2004 die flankierenden Massnahmen eingeführt. Diese sollen die Einhaltung von minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen sicherstellen. Der EU missfällt unter anderem die 8-Tage-Regel, die ausländische Firmen dazu verpflichtet, sich mindestens 8 Tage vor Arbeitsbeginn in der Schweiz anzumelden. Dies soll verhindern, dass die Schweizer Löhne auf EU-Niveau sinken. 

Die EU fordert die Schweiz auf, ihre Lohnschutzrichtlinien zu übernehmen, was allen voran von den Schweizer Gewerkschaften vehement bekämpft wird. Aber auch die SP stellte von Anfang an klar, dass das Lohnniveau in der Schweiz gehalten werden müsse – Rahmenabkommen hin oder her. 

4
Worum geht es eigentlich bei der Unionsbürgerrichtlinie?

Die Unionsbürgerrichtlinie regelt das Einreise-, Ausreise- und Aufenthaltsrecht der EU-Bürger. Im Vertragsentwurf wird sie nicht erwähnt – und ist trotzdem zu einem zentralen Streitpunkt geworden. Denn die EU machte schon in der Vergangenheit kein Geheimnis daraus, dass sie die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie durch die Schweiz erwartet. Der Bundesrat hielt stets dagegen. 

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Braucht die Schweiz ein InstA?

Die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU wird durch das Freizügigkeitsabkommen von 1999 geregelt. Dieses geht in verschiedenen Punkten weniger weit als die Unionsbürgerrichtlinie, so etwa beim Gleichbehandlungsanspruch für Nichterwerbstätige. Dass EU-Bürger in der Schweiz Anspruch auf Sozialhilfe hätten, missfällt diversen Parteien. FDP-Chefin Petra Gössi warnt in der NZZ: «Niemand will, dass eine direkte Zuwanderung in die Sozialhilfe ermöglicht wird.» Um das zu verhindern, brauche es belastbare Garantien.

5
Wieso regt sich Widerstand zu den staatlichen Beihilfen?

Anders als die Schweiz kennt die EU ein Beihilfenrecht. Dieses umfasst ein Verbot von staatlicher Hilfe für Unternehmen – sofern diese zu einer Wettbewerbsverzerrung führen. Beispiele sind nebst direkten Zahlungen etwa die Bereitstellung von Grundstücken, Bürgschaften oder Steuervergünstigungen. Die EU verlangt, dass auch hierzulande Regeln zur Überwachung und allfälligen Beseitigung staatlicher Subventionen erlassen werden. 

Vor allem den Kantonen ist das ein Dorn im Auge. So sei es nicht akzeptabel, dass Beihilfenregeln der EU in Bereichen Wirkung entfalteten, in denen die Schweiz über keinen vertraglich abgesicherten Zugang zum EU-Binnenmarkt verfüge. Doch auch der Schweizerischen Mieterinnen- und Mieterverband ist alarmiert – denn heute wird in der Schweiz ein breiter Teil der Bevölkerung beim Wohnen finanziell unterstützt.

6
Welche Parteien sprechen sich für oder gegen das Abkommen aus?

Gegen das Abkommen spricht sich die SVP aus und warnt davor, dass das Abstimmungsresultat zur BGI nun als Ja zum InstA umgedeutet wird. «Aus Sicht der SVP ist der Vertrag klar abzulehnen, weil er die Eigenständigkeit der Schweiz angreift», so Generalsekretärin Andrea Sommer. Auch die direkte Demokratie und den Föderalismus sieht die SVP in Gefahr. 

Die GLP sieht die zentralen Verhandlungsziele erreicht. «Das vorliegende Rahmenabkommen stärkt den Wirtschafts- und Forschungsplatz Schweiz», sagt Generalsekretär Michael Köpfli. Eine Forderung stellt man aber auch hier: Die GLP verlangt vom Bundesrat, dass er das InstA bis Ende Jahr dem Parlament zur Beratung übergibt. 

7
Was sagen die restlichen Parteien?

FDP, CVP, SP und Grüne sagen allesamt «Ja aber» zum InstA. Laut der FDP schafft dieses Rechtssicherheit und garantiere den Fortbestand des bilateralen Weges. Doch auch der Freisinn äussert bei den drei umstrittenen Punkten Bedenken. Wie die SP pochen die Grünen auf der Gewährleistung des Lohnschutzes. Zustimmen könne man dem InstA nur, wenn es sowohl dort, als auch bei der Klärung der staatlichen Behilfen Fortschritte gebe. 

Grundsätzliche Unterstützung kommt auch von der CVP. Zusätzlich hat diese aber bei der dynamischen Rechtsübernahme Bedenken. «Es muss eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden, die dem Schweizer Parlament und der Schweizer Bevölkerung das Recht auf eine frühzeitige Mitbestimmung einräumt», sagt Sprecher Michaël Girod.

8
Was halten die Sozialpartner vom Vertragsentwurf?

Nicht nur die Parteien haben am jetzigen Entwurf etwas auszusetzen, auch die Sozialpartner sind skeptisch. Der Arbeitgeberverband fordert den Bundesrat auf, die innenpolitischen Einwände nach Brüssel zu tragen. Auch hier pocht man auf den Lohnschutz. 

Deutlicher wird man beim Schweizer Gewerbschaftsbund (SGB). So hält SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard fest: «Ein Rahmenabkommen, das den autonomen Lohnschutz und den Service public bedroht, lehnt der SGB ab. Das vorliegende Abkommen muss neu verhandelt werden.»

Darum geht's beim EU-Rahmenabkommen

Seit über zehn Jahren strebt die EU ein Abkommen an, das die fünf bestehenden sowie allfällige neue Marktzugangsverträge mit der Schweiz regeln soll. Seit Dezember 2018 liegt ein Vertragsentwurf bereit. Diesen hatte der Bundesrat im letzten Jahr in Konsultationen geschickt und anschliessend beschlossen, in einzelnen Punkten des Entwurfes Klärungen vorzunehmen.

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