PflegeinitiativeDas Ja ist ein klares Signal, aber löst es auch die Probleme?
Von Lia Pescatore
28.11.2021
Wie wirkt sich das Ja zur Pflegeinitiative auf die Betroffenen aus? Der Lehrbeauftragte Markus Stadler und Annina Bosshard, Pflegefachfrau in Ausbildung, haben unterschiedliche Antworten auf diese Frage.
Von Lia Pescatore
28.11.2021, 23:30
29.11.2021, 08:18
Lia Pescatore
Die Forderungen der Pflegenden wurden erhört: Die Pflegeinitiative wurde mit hohen 62 Prozent angenommen.
Scheinbar vereint haben die Pflegenden für die Initiative gekämpft. Auch die 24-Jährige Annina Bosshard, die gerade ihr 6. Semester der Ausbildung zur Pflegefachfrau an der höheren Fachschule absolviert, hat sich öffentlich für das Begehren eingesetzt.
Noch vor ihrem Eintritt ins Berufsleben wurde ihr bewusst, dass sich in der Pflege etwas radikal ändern muss, damit sie den Job über längere Zeit ausüben will.
Während ihres ersten Praktikums habe sich gezeigt, dass sie der Job zwar begeistere, die Arbeitsbedingungen jedoch nicht. «Mir war schon am Anfang meiner Ausbildung klar, dass ich mich engagieren muss, damit mich mein Beruf nicht krank macht», sagt Bosshard im Gespräch mit blue News.
«Statt einer pflegerischen Massnahme gibt es dann halt eine Tablette.»
Annina Bosshard
Diplomierte Pflegefachfrau in Ausbildung
Ihr macht es zu schaffen, dass sie im Berufsalltag ihr angeeignetes Wissen und ihre Fähigkeiten aus Ressourcengründen teilweise zurückstellen müsse. «Statt einer pflegerischen Massnahme gibt es dann halt eine Tablette», sagt die Co-Präsidentin von «Swiss Nursing Students» (SNS), dem nationalen Verband der Pflegestudierenden.
Das Ja gebe ihr Hoffnung, dass sich nun nachhaltig etwas an den Arbeitsbedingungen ändere. Es bedeute aber nicht nur eine Verbesserung für die Pflegenden, sondern auch für die Patient*innen.
Profitieren alle Pflegenden vom Ja?
Enttäuscht über das Resultat am Abstimmungssonntag ist hingegen Markus Stadler, Lehrbeauftragter an der Berner Fachhochschule in der Abteilung Geburtshilfe.
«Keine Spitaldirektion wird rechtfertigen können, warum sie nur für eine einzelne Berufsgruppe die Gehälter erhöhen soll.»
Markus Stadler
Lehrbeauftragter an Fachhochschule
Der diplomierte Pflegefachmann hat die Pflegeinitiative nie als zielführenden Weg erachtet und den Gegenvorschlag unterstützt. Er erkennt praktische Probleme im Wurf des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK): Die Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen seien zwar legitim, aber auf politischer Ebene schwer umsetzbar. «Keine Spitaldirektion wird rechtfertigen können, warum sie nur für eine einzelne Berufsgruppe die Gehälter erhöhen soll», glaubt Stadler.
Er kritisiert, dass sich die Initiant*innen der Pflegeinitiative immer auf die Diplompflege bezogen hätten. Die Fachangestellten Gesundheit (FaGe), ebenfalls Pflegende, die zu äusserst bescheidenen Gehältern die Altersversorgung sicherstellen würden, «wurden im Initiativtext ausgeblendet».
Markus Stadler
zVg
Der diplomierte Pflegefachmann wirkt unter anderem als Lehrbeauftragter an der Berner Fachhochschule, Abteilung Geburtshilfe. Zuvor war er 20 Jahre auf verschiedenen Abteilungen in der direkten Pflege tätig und hat danach die Pflegeentwicklung von ein paar Berner Spitälern geleitet.
Personalmangel beheben – doch wie?
Dem widerspricht Bosshard. Die Initiative enthalte auch Passagen, die eine Förderung der Pflege allgemein vorschrieben. Zudem würden auch die Pflegenden ohne Fachausbildung davon profitieren, wenn sich der Personalmangel bei den Pflegefachpersonen entspanne. Sie erlebe es selbst in ihrem Umfeld, dass FaGe Aufgaben wahrnehmen müssten, die eigentlich ihre Kompetenzgrenze überschreiten würden – weil es an den Diplomierten fehle. Gebe es mehr Fachpersonen, würden sie also indirekt auch entlastet.
«Woher aber soll dieses Personal kommen? Aus dem Ausland?», fragt Stadler. Jenseits der Schweizer Grenze herrsche künftig ebenfalls ein Pflegenotstand.
«Den Rat einer Pflegefachperson mit 20 Jahren Berufserfahrung kann keine Schule ersetzen.»
Annina Bosshard
Diplomierte Pflegefachfrau in Ausbildung
Auch Bosshard geht nicht davon aus, dass der Mangel einfach behoben werden kann, dass mit der Annahme der Initiative «eine Maschine angeworfen wird, die nun einfach diplomierte Fachpersonen ausspuckt», wie sie es formuliert.
Nun sei es wichtig, die Personen anzusprechen, die über einen Ausstieg nachdenken oder erst kürzlich ausgestiegen sind, letztere zum Beispiel durch die Förderung von Teilzeit-Arbeit. «Ansonsten verlieren wir sehr viel Wissen», den Rat einer Pflegefachfrau oder eines Pflegefachmannes mit 20 Jahren Berufserfahrung könne keine Schule ersetzen.
Annina Bosshard
zVg SBK
Die angehende diplomierte Personalfachfrau absolviert derzeit ihr 6. Semester an einer höheren Fachschule. Sie engagiert sich als Co-Präsidentinvon «Swiss Nursing Students» (SNS), einem Verband, der dem nationalen Verband der Pflegefachpersonen SBK angegliedert ist.
Rückschritt für den einen, Etappensieg für die andere
Stadler sieht in der Annahme der Initiative hingegen einen Rückschritt. Denn dadurch gehe das Ergebnis langjähriger Verhandlungen mit Krankenkassen, Arbeitgeberverbänden und dem Parlament verloren: der indirekte Gegenvorschlag. «Es gab noch nie einen solch grosszügigen Gegenvorschlag», eine Milliarde für eine Ausbildungsoffensive hatte dieser in Aussicht gestellt. Doch nun kehre man an den Startpunkt zurück, «alle Versprechen des Parlaments sind damit verloren». Der Weg vom Verfassungsartikel über den Prozess der Gesetzbildung bis hin zur konkreten Umsetzung sei lang. «Sehr, sehr lang.»
Anders sieht dies Bosshard: Sie ist überzeugt, dass man nun auf dem Gegenvorschlag aufbauen kann. «Wir haben für keinen Schnellschuss gekämpft», sagt sie. Schon seit Ewigkeiten würden die Pflegenden für ihre Forderungen einstehen, da nehme man auch eine längere Wartezeit in Kauf: «Wir brauchen eine langfristige und durchdachte Lösung.»
Die Annahme der Initiative sei nun mal eine erste Etappe eines Marathons, nicht die Ziellinie eines Sprints. Nun hoffe sie, dass das Parlament mit ersten Lösungsansätzen kommt: Beispielsweise mit einer Verpflichtung der Spitäler, ihr Finanzierungssystem zu ändern, «damit Leistungen nicht nur noch pro Minute abgerechnet werden», sagt Bosshard.
«Die selbstständige Abrechnung der Leistungen war der kleinste gemeinsame Nenner von Pflegeinitiative und indirektem Gegenvorschlag.»
Markus Stadler
Lehrbeauftragter an Fachhochschule
Ein «Licht am Horizont» sieht auch Stadler: In Zukunft können die Pflegenden gewisse Leistungen direkt mit der Krankenkasse abrechnen ohne Einbezug eines Arztes. Dies bringe den Pflegenden mehr Spielraum, mehr Verantwortung: etwas, wofür Stadler schon seit Jahren kämpft – auch in Form einer parlamentarischen Initiative, die jedoch 2016 scheiterte. «Die selbstständige Abrechnung der Leistungen war der kleinste gemeinsame Nenner von Pflegeinitiative und indirektem Gegenvorschlag.»
Beide sehen die Impfung
Einig sind sich Stadler und Bosshard jedoch auch in einem weiteren Punkt: Dass der Abstimmungskampf eine intensive Debatte über die Situation der Pflegenden in ihrem Arbeitsalltag lanciert habe. Bosshard sieht, dass sich nun mehr Kolleg*innen getrauten, für ihren Berufsstand einzustehen anstatt die «Faust im Sack zu machen».
Auch Stadler versucht seinen Student*innen eines auf den Weg mitzugeben: «Ihr müsst euch nicht alles gefallen lassen.» Viele von ihnen hätten wenig Selbstvertrauen und Mühe, für ihre Rechte einzustehen. Es könne nicht sein, dass sich die Pflegenden mit Patienten herumschlagen müssen, die sich wegen einer zu wenig gesalzenen Rösti beschweren.
Für Stadler ist darum klar: Sollen die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals künftig besser werden, müssen auch die Patienten an ihrer Anspruchshaltung arbeiten. «Vom Business-Class-Gesundheitswesen zum Economy-Class-Gesundheitswesen.»
Bosshard ist zuversichtlich: Das Ja zur Pflegeinitiative sei auch ein klares Zeichen dafür, dass die Schweizer Bevölkerung eine sichere Gesundheitsversorgung wolle.
Doch was auch klar erscheint: Trotz klarem Signal löst die Annahme der Initiative nicht alle Probleme.