Höhere Fallzahlen Darum ist dieser Sommer nicht mit dem letzten vergleichbar

Von Gil Bieler

6.7.2021

Gelockerte Massnahmen, gelockerte Stimmung: Fussballfans beim Public Viewing in einer Zürcher Bar.
Gelockerte Massnahmen, gelockerte Stimmung: Fussballfans beim Public Viewing in einer Zürcher Bar.
Bild: Keystone/Ennio Leanza

Lockerungen, Fallzahlen, Impfkampagne: Der zweite Schweizer Corona-Sommer ähnelt dem ersten in manchen Aspekten, in vielen aber nicht. 

Von Gil Bieler

Die Schweiz erlebt bereits den zweiten Corona-Sommer – was das eine oder andere Déjà-vu zur Folge hat. Die Massnahmen werden im grossen Stil gelockert, das Leben verschiebt sich ins Freie und die Fallzahlen sinken. Doch fällt auf: So tiefe Werte wie im Sommer 2020 wurden heuer noch nicht erreicht.

Kurze Rückblende: Am 1. Juni 2020 etwa vermeldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gerade einmal drei Neuinfektionen für die Schweiz und Liechtenstein. Noch bis Mitte Juli 2020 waren Zahlen im zweistelligen Bereich keine Seltenheit.

Und wie steht die Schweiz heute da? Es wird fleissig geimpft, über 3 Millionen Personen sind bereits vollständig geschützt. Ein durchaus gewichtiger Unterschied zum vergangenen Sommer. Dennoch verharren die Infektionszahlen auf einem etwas höheren Niveau. Der tiefste Wert der letzten Wochen wurde am 27. Juni mit 59 Fällen erreicht, insgesamt lassen sich die Tage mit weniger als 100 Neuinfektionen aber an einer Hand abzählen.

Seit dem 28. Juni sind es jeweils wieder über 100 Fälle pro Tag. Laut den neuesten Zahlen vom Montag liegt der 7-Tage-Schnitt bei knapp 127 Fällen – vor genau einem Jahr lag dieser Wert bei 85 Fällen. Was sind die Gründe für diesen Unterschied? Dazu hat man beim BAG eine eindeutige Antwort bereit: «Wir testen viel mehr als noch im letzten Sommer», teilt die BAG-Medienstelle auf Anfrage mit.

Impfung führt zu Nachlässigkeit

Doch auch eine unerwünschte Folge der fortschreitenden Durchimpfung sei denkbar: «Es liegt in der Natur der Sache, dass geimpfte Personen Schutzmassnahmen tendenziell weniger konsequent einhalten.» Es gebe aber keine konkreten Zahlen, ob sich dieses Phänomen auch auf die Infektionszahlen auswirke. Das BAG betont dennoch, dass auch Geimpfte sich weiterhin an die Hygiene- und Verhaltensmassnahmen halten sollten, «da sie sonst riskieren, sich zu infizieren und das Virus weiterzuverbreiten».

Eine weitere Folge der Impfkampagne ist, dass sich das Infektionsgeschehen auf die jüngsten Altersgruppen verschoben hat. So gibt es in der Alterskategorie der 10- bis 19-Jährigen aktuell die meisten Infektionen pro 100'000 Personen, gefolgt von den 20- bis 29-Jährigen. Dass Junge seltener geimpft sind, ist laut BAG aber nur ein Aspekt: Auch ihr Verhalten – die Mobilität und die sozialen Kontakte – spielten eine Rolle.

Die Covid-Fälle in der Woche vom 14. bis zum 20. Juni, aufgeschlüsselt nach Altersgruppen.
Die Covid-Fälle in der Woche vom 14. bis zum 20. Juni, aufgeschlüsselt nach Altersgruppen.
Grafik: BAG

Seit einiger Zeit ist die Corona-Impfung auch für 12- bis 15-Jährige zugelassen, und viele Kantone passen ihr Impf-Angebot für diese Altersgruppen an. Bund und Eidgenössische Impfkommission nennen aber keinen Zielwert, wie viele von ihnen sich impfen lassen sollten. Weshalb eigentlich? Diese Altersgruppe mache nur «einen kleinen Teil der Bevölkerung aus», nämlich rund 330'000 Personen. «Eine erhöhte Durchimpfung in dieser Gruppe spielt in der epidemiologischen Entwicklung eine kleinere Rolle als bei den Erwachsenen», erklärt das BAG. «Aber jede Impfung zählt.»

Unsicherheitsfaktor Delta-Variante

Einen weiteren nennenswerten Unterschied zum letzten Sommer bildet die Delta-Variante, die in der Schweiz auf dem Vormarsch und ansteckender als der Wildtyp ist. Das bereitet vielen Expert*innen Sorgen. In England und Portugal zeige sich gerade, dass die Mutante eine neue Welle unter Nichtgeimpften auslösen könne, warnte Urs Karrer im «SonntagsBlick». Der Vizepräsident der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes rechnet damit, dass die Delta-Variante ab Mitte Juli auch in der Schweiz dominant sein dürfte.

Angesichts erleichterter Reisebestimmungen – so hat der Bund die Quarantäne für den Schengenraum aufgehoben – fragt sich, in welchem Mass Heimkehrer*innen gefährlichere Varianten einschleppen und die Fallzahlen in die Höhe treiben werden. Beim BAG heisst es dazu, man müsse die weitere Entwicklung der Fallzahlen abwarten. Eine wichtige Massnahme sei aber, dass sich Flugreisende vor der Reise testen lassen müssen. «Flugreisenden wird zudem nahegelegt, sich drei bis fünf Tage nach ihrer Rückreise in die Schweiz nochmals testen zu lassen.»

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Dass die Reisesaison nicht zwangsläufig zu einer Explosion der Fallzahlen führen muss, glaubt auch Emma Hodcroft, Epidemiologin der Universität Bern. «Wir haben ein paar Dinge, die wir im vergangenen Sommer nicht hatten», begründet sie ihre Zuversicht beim Portal «Republik». Dazu zählt sie neben den Impfstoffen auch die besagte Testvorschriften für Reisende. Denn selbst wenn Testen kein hundertprozentiger Schutz gegen die Einschleppung von Varianten aus dem Ausland sei, erwische dieses System eben doch viele Fälle. Und ein grosser Vorteil sei: Für Personen ohne Symptome sei ein positives Testergebnis greifbar.

Trotz vermeintlichem Déjà-vu-Charakter ist der Corona-Sommer 2021 also nicht identisch mit dem Corona-Sommer 2020. Was gleichzeitig bedeutet: Der weitere Pandemie-Verlauf lässt sich auch nicht einfach so prognostizieren. Der Bundesrat bereitet sich jedoch auf einen erneuten Anstieg der Fallzahlen im Herbst vor – damit der Schock diesmal nicht so heftig ausfällt wie im vergangenen Jahr.



Urs Karrer von der Covid-Taskforce warnt angesichts der Delta-Variante: «Wir müssen jedenfalls gut aufpassen, dass wir in der Schweiz nicht in eine vierte Welle geraten.» Für Rudolf Hauri, den obersten Kantonsarzt des Landes, steht sogar ausser Frage, dass es eine solche geben wird: «Es wird sicher zu einer vierten Infektionswelle kommen», sagte er jüngst zu «blue News». «Die Frage ist einzig, wie hoch und wie breit die Kurve ausfallen wird.»