Bundesrat will lockernIst das der richtige Zeitpunkt für die Abschaffung des Zertifikats?
Von Andreas Fischer
1.2.2022
Heute verfallen Tausende Covid-Zertifikate, und der Bund denkt über ein Ende der Zertifikatspflicht nach. Das würde die «gezielte Durchseuchung» weiter befeuern, kritisiert ein Gesundheitsexperte.
Von Andreas Fischer
01.02.2022, 06:55
01.02.2022, 09:55
Von Andreas Fischer
Weil die Gültigkeitsdauer auf 270 Tage verkürzt wurde, verlieren mit dem 1. Februar rund 250’000 Personen in der Schweiz ihr Covid-Zertifikat. Wöchentlich könnten zwischen 35'000 und 70’000 Menschen dazukommen, wie SRF berechnet hat. Damit das Zertifikat weiterhin gültig bleibt, kann man sich entweder einen Booster holen oder muss für den Genesenenstatus eine Infektion nachweisen.
Weil wegen der Omikron-Variante die Infektionszahlen zuletzt stark gestiegen sind, stellt sich die Frage, ob das Zertifikat überhaupt noch eine bremsende Wirkung hat. «Wir sind aktuell in einer Übergangsphase, da der Immunschutz bei zweifach Geimpften vielfach ungenügend ist und Omikron zu einer hohen Durchseuchung der Bevölkerung führt. Die Bedeutung des Zertifikats wird sich deshalb in Kürze relativieren», sagt Heiner Bucher, Leiter des Instituts für Klinische Epidemiologie und Biostatistik Basel im Gespräch mit blue News.
Der Bundesrat denkt derweil offenbar über ein Ende der Zertifikatspflicht nach, wie der «Tages-Anzeiger» unter Berufung auf Informationen aus dem Bundeshaus berichtet. So plane Gesundheitsminister Alain Berset bereits diesen Mittwoch, einen Plan zur Aufhebung der Zertifikatspflicht vorzulegen.
Zertifikatspflicht fällt frühesten Mitte Februar
Dieser Plan müsste allerdings erst noch in die Vernehmlassung mit den Kantonen. Frühestens Mitte Februar könnte der Bundesrat, der sich am 16. Februar treffen will, dann einen Entscheid fällen. «Zu Lockerungsschritten bei der 2G- und 2G-plus-Regel für gewisse Innenräume müsste erst eine Konsultation bei den Kantonen durchgeführt werden», bestätigt Mediensprecher Tobias Bär von der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) gegenüber blue News.
Für eine allfällige Aufhebung der Zertifikatspflicht sei noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen, findet Epidemiologe Bucher: «Ich denke, das Zertifikat ist aktuell insbesondere für nur zweifach Geimpfte keine ‹optimale› Garantie für einen tatsächlichen Schutz, weil der Immunschutz über die Zeit abgenommen hat. Aber die Zertifikatspflicht aufzuheben, halte ich für verfrüht, da es immer noch einen Hinweis auf einen Immunschutz gibt.»
«Gezielte Durchseuchung der Gesamtbevölkerung»
Auch bei der GDK ist man skeptisch: «Die Zertifikatspflicht stellt sicher, dass sich nur genesene und geimpfte Personen im Restaurant begegnen. Diese Personen sind deutlich besser vor schweren Krankheitsverläufen geschützt – insbesondere, wenn sie geboostert sind. Auch deshalb kann es angezeigt sein, mit der Aufhebung der Zertifikatspflicht im Inland zuzuwarten, bis die Viruszirkulation nachhaltig zurückgegangen ist.»
Immerhin lasse die Entwicklung «einen gewissen Optimismus zu», so Tobias Bär. «Wir haben es derzeit zwar mit sehr hohen Fallzahlen zu tun, gleichzeitig ist die Situation in den Spitälern bisher unter Kontrolle.»
Heiner Bucher widerspricht dieser Einschätzung: «Wir sind in einer Übergangsphase: Man lässt das Virus zirkulieren. Auch wenn man es nicht direkt so formuliert, aber es ist die gezielte Durchseuchung der Gesamtbevölkerung.»
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Kein genaues Abbild der Pandemie
Es sei ein Problem, «dass wir noch nicht wissen, ob wir die Spitze der Welle erreicht haben. Wenn es viele Neuinfektionen gibt, gibt es auch mehr Hospitalisationen: Im Moment ist die Situation in den Spitälern noch immer angespannt», sagt Bucher und weist explizit darauf hin, dass «wir in der Schweiz aktuell kein genaues Abbild der Pandemie mehr haben. Bei einer so grossen Ansteckungsrate mit Omikron ist die Dunkelziffer an Infektionen sehr hoch».
Mangelnde Testkapazitäten würden zudem das Ausmass der Neuinfektionen verschleiern. «Zudem besteht bei den Meldungen der Hospitalisationen eine Verzögerung. Aufgrund des Krankheitsverlaufs erfolgen Hospitalisationen immer mit einem Verzögerungseffekt und widerspiegeln die Zahl der schweren Infektionsverläufe durch Neuansteckungen von zwei Wochen davor.»
Aus diesen Gründen sieht Heiner Bucher einen Schweizer «Freedom Day», wie ihn Alain Berset vorige Woche andeutete, mit Skepsis. «Die angedachten Lockerungen Mitte Februar halte ich für verfrüht. Falls Lockerungen erfolgen sollten, halte ich dies eher für einen politisch begründeten Entscheid oder einen Bauchentscheid. In meiner Beurteilung ist die aktuelle Datenlage zu unsicher, um mit ausreichender Sicherheit eine Überlastung der Intensivstationen ausschliessen zu können. Jede Lockerung führt aktuell zu mehr Infektionen.»
Ende März könnte die Schweiz aus dem Gröbsten raus sein
In Dänemark und England ist man anderer Meinung und hat mittlerweile den grössten Teil der Massnahmen wieder aufgehoben. Doch gibt es entscheidende Unterschiede zur Schweiz, wie Bucher erklärt: «In beiden Ländern ist die Durchimpfung höher. In England kommt hinzu, dass man dort eine ganz andere Datenlage hat: Dort lässt sich die epidemische Lage 1:1 auf dem Niveau der Gesamtbevölkerung modellieren.»
Man wisse, «wer sich infiziert und welches Gesundheitsrisiko die Personen haben, man weiss mehr über den sozioökonomischen Status und das Alter. Damit lassen sich die in Kürze zu erwartenden Hospitalisationen und Komplikationen viel besser modellieren. Die Schweiz hingegen ist in Sachen Statistik, das wissen wir schon seit Langem, sehr schlecht aufgestellt. Das ist bedauerlich, aber politisch so gewollt, und hängt mit der föderalistischen Organisation und Zuständigkeit im Gesundheitswesen zusammen.»
«In zwei bis vier Wochen könnten wir aber durchaus so weit sein, dass Lockerungen vertretbar sind, weil eine Überlastung der Intensivstationen dann genügend sicher ausgeschlossen werden kann», ist Bucher dennoch vorsichtig optimistisch. «Wenn wir Glück haben, sind wir Ende März aus dem Gröbsten raus. Aber bis dahin könnte es noch kritisch werden.»
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