Eine Kindheit in Zürich «Dort, wo wir badeten, lagen gebrauchte Spritzen»

Von Anna Kappeler

5.2.2022

Offene Drogenszene – als Zürich an der Nadel hing

Offene Drogenszene – als Zürich an der Nadel hing

Wie es zur offenen Drogenszene in Zürich kam und was damals wirklich passierte, zeigen wir im historischen Rückblick.

03.02.2022

Zürich, die Drogenhölle Europas: Als Stadtzürcher Kind der späten 80er- und 90er-Jahre hat sich das Elend der Süchtigen ins Gedächtnis der Autorin eingebrannt. Versuch einer Erinnerung.

Von Anna Kappeler

Das Gesicht der jungen Frau sehe ich noch heute, 30 Jahre später, vor mir. Ausgemergelt war es, die Augen gross und seltsam entfremdet, das dunkle Haar strähnig. Der nackte Arm war dünn, Blut rann daran herunter, sie setzte sich gerade einen Schuss.

Die Frau lehnte sitzend mit dem Rücken an einem Baum. Ich, vielleicht drei oder vier Jahre alt, drückte die Hand meines Pas fester.

Das zumindest ist meine Erinnerung. Glasklar, und doch verschwommen. Kannte mein Pa die Frau? Und warum war ich, das Kleinkind, dabei?

«Das Elend ging mir nahe»

Also Anruf zu Hause. Mein Pa erinnert sich sofort an die drogenabhängige Frau.

«Ich habe damals als Sozialarbeiter gearbeitet. Der Letten und der Platzspitz lagen auf dem Weg meines Morgenspaziergangs ins Büro. Ich sah keinen Grund, meine Route zu ändern, nur weil sich die Drogensüchtigen ausgebreitet haben. Und ich fand es wichtig, dass die Bürger hinschauten und Präsenz zeigten.»

«Hattest du kein mulmiges Gefühl dabei?»

«Nein. Es ging mir nahe, das Elend dieser Menschen zu sehen. Wenn ich Notfalldienst hatte, kamen oft Drogenabhängige zu mir ins Büro. Ich traf dann hin und wieder Klienten auch am Platzspitz oder am Letten. Ihre Geschichten haben mich beschäftigt, Angst hatte ich keine.»

«Mit dieser Art von Wirklichkeit konfrontieren»

Mein Pa erzählt von einer Klientin, schwerst drogenabhängig. Hundsmiserabel sei es ihr gegangen, damals zu Platzspitz-Zeiten. Sie habe er auf seinen Spaziergängen oft angetroffen. Dann, eines Tages, habe sie ihn plötzlich aus einem anderen Kanton angerufen und erzählt, sie sei losgekommen von den Drogen. Solche Erlebnisse seien Lichtblicke gewesen.

«Gell, der Frau beim Baum haben wir frische Spritzen gebracht?»

«Nein, ich habe keine frischen Spritzen verteilt.»

«In meiner Erinnerung war das der Grund, warum wir dort waren. Warum waren wir dort?»

«Vielleicht waren wir einfach auf dem Nachhauseweg nach einem Tagesausflug. Ich erinnere mich noch gut, als wir an jener Frau vorbeigelaufen sind, konntest du den Blick nicht von ihr lösen. Du wolltest wissen, was sie tut.»

«Und?»

«Ich war wohl ziemlich hilflos. Ich habe dir versucht zu erklären, dass sie sich Gift spritzt. Und dass sie das nicht macht, weil sie Freude daran hat. Sondern weil sie vielleicht einsam ist und Probleme hat. Und dass sie aber nicht unsympathisch ist deswegen.»

«Wie habe ich reagiert?»

«Du hast das zur Kenntnis genommen.»

«Ich kann nicht älter als im Kindergarten gewesen sein …»

Meine Ma schaltet sich ein aus dem Hintergrund: «Du warst drei oder vier.»

«Warum hast du mich mitgenommen, Pa?»

«Die Drogenszene war damals überall. Ich wollte dir zeigen, dass Biografien unterschiedlich verlaufen können. Ich wollte dich mit dieser Art von Wirklichkeit konfrontieren.»

Das Wichtigste zur Zürcher Drogenhölle
Drug scene in Platzspitz Park in Zurich, Switzerland, pictured in June 1990. (KEYSTONE/Str)

Die Drogenszene am Platzspitz in Zuerich, aufgenommen im Juni 1990. (KEYSTONE/Str)
Keystone

Von 1986 bis 1995 herrschte Ausnahmezustand in Zürich. Tausende Fixer versammelten sich täglich auf dem Platzspitz und später am Letten. Allein 1992 starben in der Schweiz 419 Personen an den Folgen des Drogenkonsums, fast alle davon in Zürich. Zürich, die heute durchgentrifizierte Stadt, war damals an vielen Orten eine offene Drogenszene, die Süchtige und Dealer von weit her anzog.                  Am 5. Februar 1992, heute vor 30 Jahren, reagierte die Stadt: Über Nacht riegelten Polizisten der Spezialtruppe «Turicum» den «Needlepark», wie der Platzspitz genannt wurde, ab.                                                                                                                          Doch die Platzspitzräumung scheiterte. Die Szene löste sich nicht auf, sondern verschob sich lediglich einige Hundert Meter limmatabwärts an den Letten. Das Elend wiederholte sich, drei weitere Jahre lang.                                                               Am 14. Februar 1995 verbarikadierte die Polizei das Lettenareal mit Stacheldraht. Dieses Mal war die Räumung nachhaltig, dank unter anderem dezentraler Fixerstübli, Methadonprogramme, neuer Gefängnisse und Ausschaffungen der Dealer. Diese Drei-Säulen-Methode (Prävention – Intervention – Kontrollierte Abgabe) übernahmen später auch andere europäische Länder. (aka)

«Ich halte nichts von Beschönigen»

Mein Pa schweigt. Vielleicht sei ich zu jung gewesen damals, meint er dann nachdenklich. Ich widerspreche. Und bin froh, ihm aufrichtig sagen zu können, dass ich froh um diese frühkindlichen Eindrücke bin.

«Viele Süchtige hatten Freude an dir. Übrigens hat sich die Szene nicht auf den Letten und den Platzspitz beschränkt. Im Park hinter dem Bahnhof Tiefenbrunnen, wo wir öfters badeten, lagen später gebrauchte Spritzen.»

«Apropos blutige Spritze: Ich erinnere mich, dass mein Bruder und ich zusammen mit dir – war Ma auch dabei? – im oberen Letten schwimmen waren. Und uns eine gebrauchte Spritze, die im Wasser trieb, um ein Haar gestochen hätte.»

«Jetzt dramatisierst du. Das ist mir passiert, ja. Aber da war ich alleine schwimmen. Damals musste man schon etwas aufpassen, da habe ich euch Kinder nicht mitgenommen. Meine Schwiegermutter fand ohnehin, dass ich mein Kind in seinem Alter auf dem Spaziergang am Letten überfordert hätte ...»

«Ich dachte, es war Ma, die es verantwortungslos fand?»

«Nein, nein, sie hat das mitgetragen. Sie hat sich zumindest nie negativ geäussert. Warte, ich gebe sie dir.»

«Ja, für mich war es in Ordnung, dass dich Pa mitnahm. Ich blieb zu Hause mit deinem Bruder, er war damals ja noch ein Baby. Wir wollten immer, dass ihr Kinder die Welt so seht, wie sie ist. Ich halte nichts von Beschönigen. Mir war wichtig, euch zu vermitteln, ihr habt zwar ein schönes Zuhause und wir haben euch lieb, aber dieses Glück haben nicht alle.»