FDP-Bundesräte liegen oft über Kreuz«Beide befürchten, Ende 2023 abgewählt zu werden»
Von Andreas Fischer
8.4.2022
Cassis: «Ich verstehe die Sorgen in der Bevölkerung»
Der Ukraine-Krieg ruft Schweizer*innen die Atomwaffen-Bedrohung wieder in Erinnerung. Bundespräsident Ignazio Cassis will sich für Abrüstung einsetzen – und verwehrt sich gegen Kritik, die Schweiz habe die EU-Sanktionen zu zögerlich übernommen.
03.03.2022
Im Bundesrat knirscht es derzeit wahrnehmbar. Dass sich vor allem Ignazio Cassis und Karin Keller-Sutter immer wieder offen widersprechen, ist ungewöhnlich. Der Grund dafür liegt laut einem Experten auf der Hand.
Von Andreas Fischer
08.04.2022, 11:02
Von Andreas Fischer
Eigentlich arbeitet die Landesregierung nach dem Kollegialitätsprinzip. Im Moment allerdings liegen die Bundesrät*innen häufiger über Kreuz, statt mit einer Stimme zu sprechen.
«In meiner Beobachtung gibt es Dissonanzen innerhalb des Bundesrates schon lange», erklärt der Berner Polit-Analyst Mark Balsiger im Gespräch mit blue News. «Dabei geht es natürlich um inhaltliche Differenzen, er passt aber auch menschlich nicht richtig zusammen. Und dann gibt es ganz offensichtlich erhebliche Kommunikationsprobleme.»
Kritik in der Endlosschleife
Auffällig ist, dass die Differenzen in den vergangenen sechs Wochen, seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine, zugenommen haben. Sei es bei der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland, sei es bei Überflugrechten für Militärflugzeuge, sei es bei der Einschätzung der Massaker von Butscha. Ebenso auffällig: Im Zentrum von verbalen Auseinandersetzungen stand und steht vor allem Ignazio Cassis, der sich vornehmlich mit Karin Keller-Sutter nicht einig ist.
Balsiger bestätigt diese Wahrnehmung und führt die aktuellen Probleme auch darauf zurück, dass Ignazio Cassis «2017, 2018 keinen guten Start erwischt hat. Wer in einem Schlüsselamt schlecht startet, wird als leichtgewichtig wahrgenommen». In den viereinhalb Jahren seiner Amtszeit sei er immer mal wieder in Fettnäpfchen getreten. «Weil sich das gehäuft hat, nimmt man es so wahr, als sei er dauerhaft herausgefordert.»
Kommt hinzu, dass Ignazio Cassis schon länger ein Feindbild der politischen Linken sei. Daher mache man ihn systematisch zu einem Prügelknaben – mit dem Ergebnis von Kritik in der Endlosschleife: «Manchmal ist die Kritik substanziell, manchmal überzeichnet.»
Manchmal vermischen sich Substanz und Überzeichnung. Nachdem die Massaker von Butscha bekannt wurden, hatte sich Ignazio Cassis zunächst zurückhaltend geäussert. Sein Aussendepartement sprach von schweren Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht, später dann von «mutmasslichen Kriegsverbrechen». Ganz anders Bundesratskollegin Karin Keller-Sutter, die «klare Hinweise auf Kriegsverbrechen» sah.
Ein FDP-Bundesratssitz wackelt
«Die Verlautbarung aus dem Aussendepartement war abgedämpft: Natürlich schreien da viele auf», sagt Balsiger. Cassis habe den Begriff Kriegsverbrechen im juristischen Sinne verstanden, Keller-Sutter, wie im Übrigen auch die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock, im politischen.
Dass Cassis ausgerechnet von Karin Keller-Sutter Widerspruch erntete, ist bemerkenswert. Keller-Sutter ist Cassis' Parteifreundin. «Auf den ersten Blick ist das ungewöhnlich, weil man erwarten würde, dass Parteifreunde etwas mehr geschont werden», sagt Mark Balsiger. Die Erklärung: «Beide befürchten, dass sie Ende 2023 abgewählt werden.»
Wenn die FDP bei den eidgenössischen Wahlen im nächsten Jahr weiter schwächelt, dann «wird ihr zweiter Bundesratssitz ernsthaft infrage gestellt», sagt Balsiger. «Das war schon 2019 nach dem für Schweizer Verhältnisse phänomenalen Wahlerfolg der Grünen der Fall, damals blieb allerdings der systematische Aufbau einer Kampfkandidatur aus.» Die damalige Grünen-Präsidentin Regula Rytz hatte den Bundesratssitz von Ignazio Cassis angegriffen, scheiterte aber klar.
Nun würden Cassis und Keller-Sutter «alles tun, um sich in die nächste Legislatur zu retten. Sie versuchen, sich zu profilieren, und das geht bisweilen zulasten eines Regierungskollegen», führt Balsiger aus. «Die jeweiligen Beraterstäbe suchen natürlich ständig nach Möglichkeiten. Die einen sind dabei erfolgreicher als die anderen.» Vor diesem Hintergrund sei die Auseinandersetzung zwischen Cassis und Karin Keller-Sutter «absolut nachvollziehbar», findet der Polit-Experte.
An der Konsenskultur ist nicht zu rütteln
Trotz aller derzeitigen Differenzen zwischen einzelnen Regierungsmitgliedern: Das Schweizer Konkordanzmodell wird sich so schnell nicht zu einem konkurrenzbasierten Demokratiemodell, wie es viele Länder Europas kennen, wandeln. «Die Schweiz will an dem festhalten, was sie kennt: einem politischen Modell der Kleinstschritte, das aber auch ein Modell der Kontinuität ist», ist Balsiger überzeugt.
Dass es alle vier oder acht Jahre einen politischen Richtungswechsel gibt, sei schwer vorstellbar. «Dann würden viele Massnahmen der Vorgängerregierung wieder rückgängig gemacht», sagt Mark Balsiger.
Ausserdem würde es grosse Probleme mit den Volksabstimmungen geben: «Sie können davon ausgehen, dass beispielsweise bei einer Mitte-rechts-Regierung die linke Opposition systematisch Referenden ergreifen und Volksinitiativen lancieren würde – und andersrum. Das liefe auf die Lahmlegung des politischen Betriebs hinaus und brächte die weiterhin stark ausgeprägte Konsenskultur zum Erliegen.»