Russischer Vorstoss bei Awdijiwka Wie sich ukrainische Versäumnisse an der Front rächen

gbi

6.3.2024

Mit einem Bagger heben ukrainische Truppen einen Graben nahe von Kupiansk in der ostukrainischen Oblast Charkiw aus. 
Mit einem Bagger heben ukrainische Truppen einen Graben nahe von Kupiansk in der ostukrainischen Oblast Charkiw aus. 
Bild: Keystone

Die Ukraine habe den Bau von Verteidigungslinien vernachlässigt. Auch darum konnten die russischen Truppen westlich von Awdijiwka rasch vorrücken, sagen Beobachter. Nun will Kiew verzweifelt nachrüsten.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Viel zu spät habe die ukrainische Führung damit begonnen, westlich von Awdijiwka Verteidigungsanlagen aufzubauen.
  • Darum hätten die russischen Truppen nach der Einnahme der Stadt auch gleich mehrere Kilometer weiter vorrücken können. Zu dieser Einschätzung kommen mehrere Analyst*innen. 
  • Oft fehlt es an der Front an geeigneten Maschinen, um etwa Gräben zu bauen. Verzweifelte ukrainische Soldaten starten jetzt sogar Spendenaufrufe, um sich die nötigen Bagger zu kaufen.
  • Doch nun scheint in Kiew ein Umdenken stattzufinden: Der Bau von Verteidigungsanlagen wird offenbar merklich forciert. 

Es muss schnell gehen in der ostukrainischen Region Donezk, wo die russischen Truppen auf dem Vormarsch sind. Die Einnahme der einstigen Industriestadt Awdijiwka war der grösste Erfolg am Boden, den eine der Kriegsparteien zuletzt vermelden konnte. Nun müssen die ukrainischen Truppen mit allen Mitteln versuchen, diesen Vormarsch zu stoppen.

Einem Reporter der französischen Zeitung «Le Monde» zeigte ein ukrainischer Soldat stolz, was sie geschafft haben: Drei Kilometer hinter der Frontlinie haben sie erst gerade tiefe Gräben, Hunderte von Metern lang, ausgehoben. Ein unüberwindbares Hindernis für die russischen Panzer, hofft der Soldat, der schlicht Andrii genannt werden will.

Ermöglicht habe dies ein spezieller MDK-3-Bagger. Dieser brauche nur sechs Stunden für einen 100-Meter-Graben. Und stammt noch aus der Zeit der einstigen Sowjetunion. 

In einem anderen Graben ganz in der Nähe, der mit herkömmlichen Baggern ausgehoben wurde, weist Andrii auf die Unterschiede hin: «Die Ränder sind senkrecht und die lose Erde sinkt mit der Zeit ab», erklärt er. «Das ist weniger effektiv, um Panzer aufzuhalten.» Die Kamikazedrohnen, die während des Besuchs des Reporters an der Front am Himmel zu hören waren, sind freilich ein anderes Thema.

Verteidigungsanlagen müssen her, und zwar schnell

Die ukrainischen Truppen müssen nun eiligst ein verheerendes Versäumnis kompensieren: Sie hätten zu spät damit begonnen, westlich von Awdijiwka nennenswerte Verteidigungsanlagen aufzubauen. Zu dieser Ansicht kommen mehrere Beobachter*innen, wie die «Süddeutsche Zeitung» berichtet. Die Folgen sind bekannt: Nach der Einnahme der Stadt Mitte Februar konnten die Russen innert kurzer Zeit etliche Kilometer weiter vorrücken und weitere Dörfer einnehmen.

Die Nachlässigkeit der ukrainischen Streitkräfte steht nach Ansicht von Expert*innen im augenfälligen Unterschied zum Vorgehen der russischen Truppen: Diese würden von ihnen besetzte Gebiete in der Südukraine rigoros absichern.

Doch nun reagiere Kiew: Allein zwischen dem 24. Februar und 2. März hätten die ukrainischen Behörden fast 200 Verträge zum Bau von Verteidigungsanlagen abgeschlossen, berichtet die SZ unter Verweis auf den Infodienst «Naschi Groschi». Schützengräben, Bunker, Panzersperren, alles muss jetzt nachgeholt werden.

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Kommandanten hätten Präsident Wolodymyr Selenskyj mehrfach auf den Missstand hingewiesen, wurden aber lange nicht erhört. Noch am 19. Februar habe das ukrainische Portal «Censor» festgehalten, dass es westlich von Awdijiwka keine nennenswerten Verteidigungslinien gebe. Die Militäreinheiten vor Ort seien zudem nur unzureichend ausgerüstet: «Die meisten Verteidigungspositionen werden von Soldaten mit einer Schaufel aus der Erde gegraben», zitiert die SZ.

Ukrainische Truppen betteln um Spenden

Wie gross die Verzweiflung in gewissen ukrainischen Kompanien ist, zeigt die Aktion eines Soldaten der 26. Artilleriebrigade. Im Internet postete er einen Spendenaufruf, um 72'000 Dollar für den Kauf eines Baggers zusammenzubekommen. Dieser werde für den Bau von Unterkünften und Gräben gebraucht, zitiert «Business Insider». «Sie können helfen, nicht nur ein, sondern viele Leben unserer Soldaten zu retten und uns dem Sieg einen Schritt näherzubringen», heisst es in dem Spendenaufruf.

Auch Rob Lee, ein militärischer Beobachter, weist auf X auf die immense Bedeutung der Verteidigungsanlagen für die ukrainische Armee hin: «Der Bau besserer Befestigungen, auch für die Artillerie, ist eine der wirksamsten Möglichkeiten für ukrainische Einheiten, einen Mangel an Munition *teilweise* auszugleichen», lautet seine Einschätzung.

Dass die Lage für die ukrainischen Truppen kritisch sei, hielt erst vor Kurzem der militärische Befehlshaber der britischen Armee, Admiral Anthony Radakin, fest. Daran dürfte sich auch in den nächsten Monaten kaum etwas ändern – bis die ersehnten Hilfslieferungen aus den USA eintreffen würden.

Zur selben Einschätzung kommt der Chefredaktor des Portals «Censor», der zahlreiche Orte in der Ukraine aufzählen kann, an denen die russischen Truppen gerade vorrückten. Die strategisch bedeutende Stadt Kupjansk müsse nun dringend mit Verteidigungslinien geschützt werden, genauso die Stadt Tschassiw Jar westlich von Bachmut. Die Lage an der Front sei «kritisch» und «bedrohlich», zitiert die SZ.


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