Alles «Terroristen» Putin erklärt Zivilisten zum Freiwild

Von Philipp Dahm

12.10.2022

Putin droht harte Reaktion für den Fall weiterer ukrainischer Angriffe an

Putin droht harte Reaktion für den Fall weiterer ukrainischer Angriffe an

Nach der Explosion mit erheblichen Schäden an der strategisch wichtigen Krim-Brücke hat der russische Präsident Wladimir Putin für den Fall weiterer ukrainischer Angriffe mit einer harten Reaktion Russlands gedroht.

10.10.2022

Wladimir Putin hat sich seine jüngste Raketensalve mindestens 400 Millionen Dollar kosten lassen. Es dürfte nicht der letzte Angriff auf zivile Infrastruktur gewesen sein, lässt der Jargon im russischen Fernsehen erahnen.

Von Philipp Dahm

Die neue Marschrichtung des Kremls ist klar. Wladimir Putin spricht in einer offiziellen Ansprache immer wieder von «Terroristen» und «Infrastruktur», als er die jüngsten massiven Raketenangriffe auf die Ukraine rechtfertigt – siehe auch oben stehendes Video.

Für all jene, denen das zu subtil ist, wird Konstantin Dolgow deutlich. Im russischen Fernsehen sagt der Politiker, der von 2011 bis 2017 im Aussenministerium gearbeitet hat: «Diese Angriffe galten nicht ziviler Infrastruktur. Das waren Angriffe gegen militärische Infrastruktur. Die gesamte Kanalisation dient nicht Zivilisten. Sie dient dem Krieg.»

Auch Dolgow betont, der Krieg in der Ukraine sei «im Kern eine Anti-Terror-Operation». Die Stossrichtung des Mannes, der einst auch noch Russlands Menschenrechtsbeauftragter war, ist klar: Indem der Feind auf  «Terroristen»-Status reduziert wird, dient das zur Rechtfertigung für massive Luftangriffe auf zivile Ziele.

Raketen-Salve kostete Moskau mindestens 400 Millionen

Die Folgen sind fatal: Seit dem 10. Oktober haben russische Raketen rund 30 Prozent der Energie-Infrastruktur der Ukraine getroffen – so bei CNN beziffert von Energieminister Herman Haluschtschenko. Die Bevölkerung ist deswegen zwischen 17 und 22 Uhr zum Stromsparen aufgerufen, damit das Netz nicht zusammenbricht.

Die Kosten für den Raketenangriff vom 9. Oktober für Russland werden auf 400 bis 700 Millionen Dollar geschätzt. Und Moskau rüstet nach: Insgesamt soll der Kreml im September in Teheran 2400 der iranischen Kamikaze-Drohne Shahed 136 bestellt haben, sagt Wolodymyr Selenskyj in seiner jüngsten Ansprache. Die Shahed 136 alias Geran-2 ist die deutlich günstigere Alternative zur teuren Hyperschall-Rakete Kinschal.

Deutsches Flugabwehrsystem Iris-T in Ukraine eingetroffen

Deutsches Flugabwehrsystem Iris-T in Ukraine eingetroffen

Kurz nach den neuen Raketenangriffen Russlands auf ukrainische Städte hat Deutschland das Flugabwehrsystem Iris-T SLM an das Land übergeben. Das bestätigt auch der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow auf Twitter. Er erklärt: «Eine neue Ära der Luftverteidigung» habe nun begonnen. Ausdrücklich bedankt er sich bei Verteidigungsministerin Christine Lambrecht für ihre starke Unterstützung der Ukraine. Deutschland will Kiew zunächst vier der jeweils 140 Millionen Euro teuren Systeme des bodengestützten Typs von Iris-T zur Verfügung stellen, die Finanzierung von drei weiteren ist gesichert. Eines dieser Systeme kann eine mittlere Grossstadt wie Nürnberg oder Hannover schützen. Iris-T SLM kann auf Ziele bis 20 Kilometer Flughöhe und 40 Kilometer Reichweite feuern. Es wird also eine Art Schutzschirm über einer Fläche gespannt. «Besonders die bodengebundene Luftverteidigung ist in der Lage, Räume über längere Zeit dauerhaft zu schützen», schreibt der Hersteller.

12.10.2022

Kiew hat das Problem erkannt – und arbeitet eifrig an der Lösung. Nachdem aus Deutschland das erste Iris-T-System in der Ukraine eingetroffen ist, sagt US-Präsident Joe Biden seinem ukrainischen Kollegen Wolodymyr Selenskyj in einem Telefonat weitere Hilfe zu. «Luftabwehr hat bei unserer Verteidigungskooperation oberste Priorität», wird der ukrainische Präsident dazu zitiert.

Kiews Vorteile: Waffen und Training

Auch die Bodentruppen erhalten Schützenhilfe: Aus den USA sind vier weitere Himars-Artillerie-Systeme in der Ukraine eingetroffen. Innerhalb der Nato werden derweil Rufe lauter, Kiew auch mit Langstrecken-Munition für Himars- und MLRS-Raketenwerfern zu versorgen. Das soll beim nächsten Treffen zwischen Nato und ukrainischer Armee auf der US-Basis im deutschen Ramstein besprochen werden.

Die Nato verstärkt ausserdem ihren Ausbildungseffort: Der australische Premierminister gibt nach einem Telefonat mit Wolodymyr Selenskyj am 10. Oktober bekannt, dass sein Land die Ukraine womöglich beim Training von Truppen unterstützen wird.

Kanada macht derweil Nägel mit Köpfen und entsendet 40 Pioniere nach Polen: Neben der Vorbereitung von Rekruten sollen sie dort mit ukrainischen Soldat*innen auch den Umgang mit der M-777-Haubitze üben.

Die Gegenseite legt gleichzeitig offenbar wenig Wert auf Ausbildung: Nach der Teilmobilmachung werden Russen mitunter nach wenigen Tagen Training an die Front geschickt. Die Ausrüstung ist schlecht, denn das, was etwas hergibt, ist schon an der Front. Wer sich drückt, dem droht Gefängnis: Die neuen Rekruten seien «Kanonenfutter», schreibt «Business Insider».

Lagebild: Kaum Bewegung an der Front

An der rund 1500 Kilometer langen Kontaktlinie hat es zuletzt kaum Bewegung gegeben. Die ukrainische Seite dürfte nach den jüngsten Geländegewinnen damit beschäftigt sein, Nachschub und Artillerie nachrücken zu lassen. Auch Moskaus Männer arbeiten daran, beschädigte Versorgungslinien auszubessern.

Sie hat im Oblast Luhansk erfolgreich kleinere Vorstösse vor Kreminna durchgeführt, während die Russen zwei Dörfer nahe Bachmut erobert haben wollen. Aus Cherson werden Gefechte gemeldet, doch auf der unten aufgeführten Karte gibt es bisher keine signifikanten Verschiebungen.

Die aktuelle Lagekarte.
Die aktuelle Lagekarte.
Institute for the Study of War

Nach wie vor gespannt ist die Situation an der Grenze zu Belarus: Per Eisenbahn würden russische Soldaten «waggonweise» nach Belarus gebracht, schreibt Journalist Jason Smart unter Berufung auf lokale Quellen. Machthaber Alexander Lukaschenko behauptet derweil beim Treffen seines Sicherheitsrates, Angriffe auf Belarus würden in der Ukraine nicht nur diskutiert, sondern bereits geplant.