Deutschland liefert Luftabwehrsystem Putin setzt auf Terror aus der Luft, Kiew bekommt erhoffte Hilfe

Von Philipp Dahm

12.10.2022

Lambrecht: Modernes Luftabwehrsystem zeitnah da

Lambrecht: Modernes Luftabwehrsystem zeitnah da

Die jüngsten russischen Raketenangriffe auf die Ukraine zeigen die Bedeutung einer raschen Lieferung von Luftverteidigungssystemen an die Ukraine, so Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. «Russlands Angriffe mit Raketen und Drohnen terrorisieren vor allem die Zivilbevölkerung», teilte die SPD-Politikerin mit. «Deshalb unterstützen wir jetzt besonders mit Flugabwehrwaffen. In den nächsten Tagen steht das erste von vier hochmodernen Iris-T SLM Luftverteidigungssystemen zum wirksamen Schutz für die Menschen in der Ukraine bereit», so Lambrecht. Das System gilt als hochmodern und steht bislang noch nicht einmal der Bundeswehr zur Verfügung. Drei weitere Einheiten könnten hingegen erst «im Laufe des nächsten Jahres» geliefert werden. Eine Einheit des Luftabwehrsystems Iris-T SLM besteht aus vier Fahrzeugen – einem Feuerleitgerät und drei Raketenwerfern. Es soll eine mittlere Grossstadt vor Angriffen aus der Luft schützen können. Das System ermöglicht dem deutschen Hersteller Diehl Defence zufolge Schutz vor Angriffen durch Flugzeuge, Hubschrauber, Marschflugkörper und ballistische Kurzstreckenraketen.

11.10.2022

Kiew hat die versprochene Hilfe aus Deutschland erhalten: Das erste der vier versprochenen Flugabwehrsystemen Iris-T soll bereits geliefert worden sein. Nach dem Raketenbeschuss ziviler Infrastruktur gewinnt das Thema für Kiew an Bedeutung.

Von Philipp Dahm

Weil Berlin ein bisschen länger darüber nachdenkt, ob man der Ukraine wirklich einige Exemplare des Flakpanzers Gepard überlässt, muss sich die Bundesregierung viel Kritik anhören.

Das zieht sich durch: Als das Verteidigungsministerium am 10. Oktober bekannt gibt, dass das Flugabwehrsystem Iris-T SLM früher nach Kiew geliefert werden soll, sind die Kommentare auf Twitter entsprechend. «Jede Stunde zählt. Ist das jetzt klar?», fragt einer. «Zu spät», kommentiert trocken ein anderer.

Dabei tut das Kabinett von Bundeskanzler Olaf Scholz in Sachen Luftabwehr, was es kann. Schon im Juni kündigt Berlin an, die Ukraine mit Iris-T unterstützen zu wollen. Dass bereits jetzt vier Systeme ausgeliefert werden können, ist nur möglich, weil Ägypten zurücksteckt. Kairo hat im Dezember 2021 16 Iris-T-Systeme bestellt: Auf Bitte Berlins lässt Ägypten der Ukraine nun den Vortritt. Eines der Exemplare soll bereits an die Ukraine übergeben worden sein, berichtet der «Spiegel» am Dienstagabend.

Kiew bekommt damit eine Luftabwehr, von der die Bundeswehr selbst noch nicht so viele Exemplare im Arsenal hat. Das Paket aus Hochleistungsradar, Abschussvorrichtung und Kontrollwagen sowie Raketen kostet laut Andrij Melnyk, dem früheren ukrainischen Botschafter in Deutschland, 140 Millionen Euro pro Stück. Die Iris-T-Raketen sollen dank eines neuen Infrarot-Suchkopfs sehr präzise und gegen Täuschkörper relativ resistent sein.

Welche Luftabwehr der Westen geliefert hat

Als Boden-Luft-System ist Iris-T im Jahr 2014 erstmals erfolgreich getestet worden – zuvor war die Rakete nur an Flugzeugen wie dem Eurofighter zum Einsatz gekommen. Das hochmoderne System kann vom Flugzeug über den Marschflugkörper bis zur Drohne alles abfangen: Es komplementiert die 30 Flakpanzer Gepard sowie verschiedene Anti-Drohnen-Systeme, die Berlin bisher geliefert hat.

Tschechien hat der Ukraine sechs Batterien vom Typ 9A34 Strela-10 zukommen lassen. Die Strela gibt es auch als schulterbasierte Abfangrakete.
Tschechien hat der Ukraine sechs Batterien vom Typ 9A34 Strela-10 zukommen lassen. Die Strela gibt es auch als schulterbasierte Abfangrakete.
Archivbild: Commons/Vitaly V. Kuzmin

Dazu kommen tragbare Flugabwehr-Raketen vom amerikanischen Typ Stinger und 2700 Strela sowjetischer Bauart aus DDR-Beständen. Damit ist Deutschland in der Kategorie Luftabwehr ganz vorne: Die USA haben die Lieferung von acht Nasams-Batterien angekündigt, Grossbritannien hat bisher sechs Stormer HVMs entsendet, Tschechien hat sechs 9K35 Strela-10 und die Slowakai eine S-300-Batterie geliefert. Hinzu kommen tragbare Waffen.

Wie dringend die Ukraine dieses Gerät braucht, zeigen die jüngsten Raketenangriffe: Obwohl Moskau angibt, militärische Ziele angegriffen zu haben, zeigt die Realität, dass Russland gezielt kritische Infrastruktur angreift. Die Raketen schlagen in Brücken und bei Kraftwerken ein: Mehrere Städte sind zeitweise ohne Strom und fliessend Wasser.

Wasser- und Energieversorgung als Ziele

Die Raketenschläge sind bereits vor der Attacke auf die Kertsch-Brücke auf der Krim initiiert worden, heisst es aus Washington. Und derlei Angriffe dürften zunehmen: Der Kreml hat mit seinen Raketen die Möglichkeit, den Winter für die Ukraine sehr lang und sehr kalt werden zu lassen, wenn weiterhin die Wasser- und Energieversorgung ins Visier genommen werden.

Es liegt im Kalkül des Kremls, dass Kiew versucht, diese kritische Infrastruktur zu schützen, glaubt Niklas Masuhr. «Es ist eine der Logiken des Krieges bisher, dass Russland mit Schlägen gegen ukrainische Städte die Verteidiger zwingen will, diese Luftabwehrsysteme zum Schutz der Zivilbevölkerung zu verwenden und nicht an der Front», erklärt der ETH-Experte im Interview mit blue News.

Das Problem sei, dass der Westen selbst das Thema Luftabwehr in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt habe, so Masuhr: «Der Westen hat also kaum etwas, was er schicken könnte.» Die Systeme seien kompliziert und für jeweils unterschiedliche Projektile geeignet. «Luftabwehrsysteme sind keine magischen Schutzschilde. Israels Iron Dome ist für einen gewissen Zweck konzipiert und würde anderswo gar nicht einsetzbar sein, etwa aus klimatischen Gründen.»

«Die Ukraine braucht Kampfjets»

Während Israel Kiew militärisch nicht unterstützt und somit auch kein Iron Dome die Ukraine schützen wird, ist das Militär froh über einen anderen, unfreiwilligen Waffenlieferant: Bei ihrem Rückzug lässt die russische Armee auch Flugabwehrsysteme zurück. So wollen die ukrainischen Streitkräfte mehrere 9К331М TOR-M2 erbeutet haben. Auch 9K35 Strela-10 sollen den Besitzer gewechselt haben.

Ob das Arsenal an Luftverteidigung ausreichen wird, um kritische Ziele im ganzen Land zu schützen, muss jedoch bezweifelt werden. Nicht zuletzt feuert Russland seine Raketen auch wieder von Belarus ab, wodurch nicht einmal vorhersehbar ist, aus welcher Richtung die Angriffe kommen werden.

Mittel- und langfristig wird die Ukraine der Gefahr nur dann effektiv begegnen können, wenn auch die Luftwaffe gestärkt wird. Die ukrainische Abgeordnete Lesja Wasilenko fordert dann auch Kampfjets für Kiew – neben Artillerie und Drohnen. «Wir brauchen das, um unsere Leute zu schützen. Wir können nicht abwarten, bis in Washington, Berlin, Paris und London die politischen Feinheiten besprochen sind.»

Das schreibt die Politikerin keine 24 Stunden, nachdem Berlin die schnellere Iris-T-Lieferung vermeldet hat. Deutschland kann einem schon leidtun – nur die Ukraine hat es schwerer.