Brexit nicht mitgerechnet Wie Grossbritannien sehenden Auges in den Abgrund taumelt

Philipp Dahm

8.2.2019

Ein Obdachloser im Oktober 2018 in London: Alleine in der Hauptsadt gab es zwischen 2017 und 2018 18 Prozent mehr Menschen ohne Bleibe.
Ein Obdachloser im Oktober 2018 in London: Alleine in der Hauptsadt gab es zwischen 2017 und 2018 18 Prozent mehr Menschen ohne Bleibe.
Bild: keystone

Politiker streiten über den Brexit, während vor dem Parlament eine Obdachlose erfriert: Die EU-Diskussion verdeckt immense, soziale Probleme auf der Insel.

Der Mittwoch ist normalerweise ein geschäftiger Arbeitstag im britischen Parlament, weiss der «Independent». Doch mittlerweile hat eine Art von Agonie die Abgeordneten übermannt: Zuletzt gingen sie nach nur vier Stunden auseinander – obwohl sie doch gerade erst zum Nachsitzen verdonnert worden sind. Eigentlich hätte das Parlament eine Auszeit gehabt, die die Politiker nutzen sollen, um sich in Themen einzuarbeiten.

Weil diese Pause aber auch mit den Schulferien zusammenfällt, hat Andrea Leadsom, die als Leader oft the House of Commons für die Ansetzungen der Sitzungen verantwortlich ist, die freie Zeit gestrichen. Stattdessen sollte das Parlament über Schulsport und anti-soziales Verhalten debattieren. Ein Blick ins obige Twitter-Video zeigt, dass die Volksvertreter im grossen Stil geschwänzt haben.

Die Opposition bezeichnet Theresa Mays Kabinett deshalb als «Zombie-Regierung», die «keine Visionen, keine neuen Ideen und vor allem keine Gesetzgebung» vorweisen könne. Eine andere Abgeordnete nennt den Vorgang «51 Tage vor dem Brexit vollkommen unverantwortlich».

Eine Sprecherin von Premierministerin May begründet die kurze Sitzung im «Independent» so: «Die Tagesordnung des Parlaments wird vorab bestimmt, und es gab zuletzt Tage, an denen bis nach Mitternacht gearbeitet wurde, um über den Brexit zu diskutieren und Erklärungen dazu abzugeben.» Dabei gäbe es genug, worüber die Politiker diskutieren könnten: Denn das Brexit-Chaos verdeckt, dass sich Grossbritannien schon seit Längerem auf einem absteigenden Ast befindet. Und jene Not, die viele Menschen auf der Insel spüren, ist für diese Politiker eigentlich nicht zu übersehen.

Drinnen tagen, draussen sterben

Ein Beispiel: Am 20. Dezember stritt das House of Commons gerade wieder einmal über den Brexit, als vor dem Parlament in Westminster eine Frau starb. Gyuala Remes, eine gebürtige Ungarin, war obdachlos und erfror auf Londons Strassen. Sie wurde nur 43. Beileibe kein Einzelfall: Seit die Konservativen 2010 die Regierung übernommen haben, ist die Zahl der Obdachlosen um 165 Prozent gestiegen, konstatierte das zuständige Ministerium im vergangenen Herbst. Das Hilfswerk «England Shelter» ergänzte im November, 320'000 Briten hätten kein Dach über dem Kopf.

Die Sparanstrengungen der Konservativen, die seit acht Jahren an der Macht sind, waren bei dieser Entwicklung das Öl im Feuer. Eine Studie von Wissenschaftlern der Universität Cambridge kommt zu dem Schluss, dass die folgenden Budgetkürzungen Gift für den sozialen Zusammenhalt gewesen seien: «Die Sparpolitik hat die Beziehungen zwischen Regional- und Landespolitik verändert, die Einflussmöglichkeiten der Lokalpolitik verringert und die Ungleichheit zwischen den Regionen verstärkt und die Ungerechtigkeit verschärft», schreiben die Autoren.

Brexit-Blockade – und kein Ende in Sicht:

Die Resultate lassen sich mit Zahlen verifizieren: Die Lokalpolitik hat allein zwischen 2010 und 2015 die Hälfte ihrer Mittel verloren. Weil das soziale Netz grobmaschiger geworden ist, sind mehr Menschen in die Armut abgerutscht: 14,2 Millionen Briten sind einer Studie zufolge arm. 4,5 Millionen von ihnen sind Kinder – und die Hälfte aller armen Briten lebt in einem Haushalt mit einem behinderten Kind. Die Betreuung von Kindern, aber auch die Bewältigung der Mieten stellt diese Gruppe vor enorme Probleme.

Der nächste Crash kommt bestimmt

Und obwohl die weltweite Wirtschaftskrise von 2008 längst überwunden ist, hat sich der Lebensstandard der Briten seither kaum verbessert. Im Gegenteil: Die Jungen unter ihnen, die heute einen Job finden, müssen mit weniger Gehalt rechnen, wenn man ihre Löhne mit denen von damals vergleicht. Ein Schlag ins Gesicht der neuen Generation von Arbeitnehmern: Nach dem Tiefpunkt 2009 ist die Wirtschaft zwar stetig gewachsen, doch am Aufschwung hat das Gros der Angestellten nicht teilhaben dürfen.

Wo die Auslandsschweizer wohnen:

Und der nächste Tiefschlag steht bevor: «Die nächste Finanzkrise könnte bald kommen», unkte vor wenigen Tagen der «Guardian». «Eine Dekade nach dem Finanzcrash steht uns bald ein neuer Abschwung bevor», flankierte der «Independent» die pessimistische Prognose. Die bisherige Politik habe nur dafür gesorgt, dass Reiche reicher und Arme ärmer würden, so die Analyse.

Ein irres Bilder-Kaleidoskop von der Insel:

Dabei hat ein EU-Austritt – wie radikal auch immer er ausfallen mag – noch nicht einmal stattgefunden, und Experten befürchten ja ein wirtschaftliches Chaos für die Zeit danach: Das Schlimmste steht also erst noch bevor. Und wie reagieren die Volksvertreter fernab des Prekariats? Sie reiben einander in ihren starren Stellungen auf, anstatt auf die Alarmsignale zu hören und zu gestalten. 

Wenn sie den Gebeutelten nun auch noch mit kurzen, minimalistischen Sitzungen signalisieren, dass ihre Sorgen nichts zählen, könnten eine mögliche Rezession, eine galoppierende Verarmung und überhaupt der Frust über die Volksvertreter zu einem gefährlichen Gemisch werden. Dann fehlte nur noch ein Funke, damit es zur Explosion käme.

Zur Erinnerung: Die britische EU-Mitgliedschaft endet am 29. März um 0 Uhr. Es wird die Sekunde der Wahrheit sein.

Die Bilder des Tages:

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