Experten zur Atomschlag-Drohung Wie die «schmutzige Bombe» in Putins Kalkül passt

Von Gil Bieler

24.10.2022

Moskau: Kiew plant Provokation durch radioaktive Bombe

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Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat in einem Telefonat mit seinem französischen Amtskollegen behauptet, Kiew plane zur Diskreditierung Moskaus die Zündung einer radioaktiven Bombe.

23.10.2022

Ist Moskau bereit, in der Ukraine eine «schmutzige Bombe» zu zünden – um das dann Kiew in die Schuhe zu schieben? Oder geht es nur um Angstmache? Zwei Fachleute versuchen, die Anschuldigungen zu deuten.

Von Gil Bieler

Acht Monate nach Kriegsbeginn ist ein Schwarzer-Peter-Spiel um die «schmutzige Bombe» entfacht. Russland behauptet, die Ukraine wolle radioaktiven Sprengstoff auf dem eigenen Staatsgebiet zünden. Der Angriff solle danach Moskau in die Schuhe geschoben werden.

Eine Darstellung des russischen Verteidigungsministers, die auch das russische Generalkonsulat in Genf auf Twitter verbreitet:

Das Dementi folgte auf dem Fuss: Es sei vielmehr Russland, das zu solch drastischen Schritten greifen wolle, entgegnete die Ukraine. «Die Russen beschuldigen andere oft dessen, was sie selber planen», schreibt Aussenminister Dmytro Kuleba auf Twitter. Auch Frankreich, Grossbritannien und die USA weisen die russische Darstellung zurück.

Von einer schmutzigen Bombe ist die Rede, wenn konventionelle Sprengsätze mit radioaktivem Material – etwa Cäsium oder Uran – versetzt werden. Sie sind einfacher herzustellen, aber ihre Zerstörungskraft ist deutlich geringer als bei einer Atomwaffe. Die Explosion verteilt die radioaktiven Stoffe, was zur Verstrahlung eines Gebiets führt.

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Viele Beobachter zeigen sich beunruhigt über die gegenseitigen Beschuldigungen der Kriegsparteien. Wegen der ukrainischen Erfolge und der anhaltenden westlichen Unterstützung für Kiew könnte Kreml-Chef Wladimir Putin versucht sein, zu drastischen Mitteln zu greifen.

Als mögliches Ziel einer schmutzigen Bombe wird dabei meist Cherson genannt. Mit gutem Grund: Es ist die einzige Grossstadt, die Russland im Kriegsverlauf erobern konnte – doch nun droht die Rückeroberung durch ukrainische Truppen. Das wäre eine immense Schmach für Putin.

Besorgt zeigt sich auch Ulrich Schmid, Russland-Experte der Universität St. Gallen. Man müsse dabei die Abfolge der jüngsten Ereignisse betrachten, erklärt er auf Anfrage von blue News: «Das Wichtigste ist sicherlich, dass Russland die Menschen zum Verlassen der Region Cherson aufgerufen hat.» Gleichzeitig hat die russische Regierung das Kriegsrecht in den annektierten Gebieten erklärt. Dadurch können auch jene, die nicht freiwillig gehen wollen, evakuiert werden.

«All das könnte darauf hindeuten, dass Russland einen grösseren Einsatz in diesem Gebiet plant, der auch Folgen für die Zivilbevölkerung haben könnte – im schlimmsten Fall einen begrenzten Atomschlag», sagt Schmid. Er bekräftigt damit Befürchtungen, die er in der vergangenen Woche geäussert hatte.

ETH-Forscher: «Konventionelle Waffen wären wirksamer»

Ein Experte, der dagegen ein Fragezeichen hinter die Drohkulisse setzt, ist Stephen Herzog. Er forscht als Atomwaffen-Experte an der ETH Zürich und erklärt auf Anfrage. «Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Russland eine sogenannte schmutzige Bombe in Cherson einsetzt, weil sich daraus kein militärischer Nutzen ergibt.» Es würde zwar ein Gebiet mit einem Durchmesser von mehreren Hundert Metern radioaktiv verstrahlt. Der Vormarsch ukrainischer Truppen liesse sich dadurch aber nur unwesentlich verlangsamen.

Herzog führt aus: «Auch wenn Russland bei der Verteidigung von ukrainischen Regionen, die es zuvor erobert hatte, ins Straucheln gerät, verfügt es über viele konventionelle Waffen, die gegen die ukrainische Armee viel wirksamer wären als eine schmutzige Bombe.»

Doch geht es der russischen Führung womöglich gar nicht um die Wirkung auf dem Schlachtfeld – sondern um den psychologischen Effekt. «Schmutzige Bomben sind Waffen der Massenzerrüttung, nicht der Massenvernichtung», sagt Herzog. Während ihr physischer Schaden limitiert sei, seien die psychologischen Auswirkungen nicht abschätzbar.

Einerseits könnte der Einsatz einer solchen Bombe bei der Ukraine und ihren westlichen Partnern Angst auslösen – und die Frage aufwerfen: Wenn Putin bereit ist, eine schmutzige Bombe zu zünden, kommt dann als Nächstes eine Atomwaffe?

Andererseits könnte genau der gegenteilige Effekt eintreten und die NATO-Mitgliedstaaten und andere Verbündete könnten ihre Unterstützung für die Ukraine weiter ausbauen. «Es wäre ein kalkuliertes Risiko für Putin, das dramatisch nach hinten losgehen könnte. Und der Kreml muss das wissen.»

Auch wenn er das Szenario für unwahrscheinlich hält, mag der Atomwaffen-Experte den Einsatz einer schmutzigen Bombe nicht kategorisch ausschliessen. «Putin und das russische Militär haben während dieses Krieges oft Dinge gemacht, die Beobachter überrascht haben», sagt Herzog. «Und jetzt, da Verteidigungsminister Sergej Shoigu verbreitet, dass die Ukraine den Einsatz einer schmutzigen Bombe vorbereite, muss man sich fragen: Wieso?»

Putin lotet Grenzen aus

Russland-Kenner Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen kann sich vorstellen, dass der russische Oberbefehlshaber Surowikin unter grossem Druck steht, den Krieg möglichst bald zu einem Ende zu bringen. «Ein Ende würde in diesem Fall bedeuten, die vier annektierten Gebiete vollständig zu erobern und zu sichern. Das wäre aus Putins Sicht das bestmögliche Szenario, er könnte die ‹Befreiung› der Ukraine verkünden.»

Doch habe sich gezeigt, dass auch die Teilmobilisierung in Russland nicht ausreiche, um dieses Ziel zu erreichen. «Die Diskussion um den Einsatz einer dreckigen Bombe könnte daher auch der Versuch Putins sein, den ganzen Eskalationsspielraum zu nutzen, der vor dem Einsatz eines Atomschlags noch bleibt.» Dazu gehöre auch, dass die Föderationskreise Zentralrussland und Südrussland in tiefere Stufen des Kriegszustands versetzt worden seien.

Was sich auf dem Schlachtfeld abzeichnet, bleibt also selbst für Fachleute nur schwer einschätzbar. Stephen Herzog von der ETH Zürich sagt aber eines mit Überzeugung: dass an der russischen Darstellung nichts dran sein könne. «Ich sehe keinen denkbaren Grund zu glauben, dass die Ukraine eine schmutzige Bombe auf ihrem eigenen Territorium einsetzen könnte, die ihre eigene Zivilbevölkerung schädigen könnte.» Das gelte umso mehr, als dass die ukrainischen Truppen derzeit auf dem Vormarsch seien.

Russlands Präsident Wladimir Putin besucht ein militärisches Ausbildungszentrum für Reservisten in der Region Rjasan.
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Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa