Schlacht um ChersonWas genau bezweckt Putin mit dem Kriegsrecht?
Von Herbert Aichinger
20.10.2022
Seit Donnerstagnacht gilt das von Putin verhängte Kriegsrecht in den besetzten ukrainischen Regionen. Den Zweck der Massnahme schätzen Experten unterschiedlich ein.
Von Herbert Aichinger
20.10.2022, 13:52
20.10.2022, 14:02
Herbert Aichinger
In einem ersten Dekret verkündete der russische Präsident Wladimir Putin das Kriegsrecht für die im September rechtswidrig annektierten ukrainischen Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja. In einer Sitzung des russischen Sicherheitsrats sprach Putin dabei ausdrücklich von «Teilen der Russischen Föderation».
Starke Einschränkungen der persönlichen Freiheit
Ziel des russischen Kriegsrechts ist es unter anderem, Ausgangssperren zu verhängen und die Reisefreiheit zu beschränken. Auch eine strengere Zensur, die Einschränkung der Arbeit von Parteien und Verbänden und das Abhören privater Telefonate werden damit legitimiert. Bürger der betroffenen Regionen müssen mit verstärkten Kontrollen, Durchsuchungen, Festnahmen und der Beschlagnahmung von Privateigentum rechnen. Sie können ferner dazu gezwungen werden, in Rüstungsbetrieben zu arbeiten.
In einem zweiten Dekret erhalten Behörden in russischen Grenzregionen wie Belgorod, Brjansk, Kursk, Rostow und Woronesch sowie auf der annektierten Halbinsel Krim erweiterte Machtbefugnisse, um ein erhöhtes Reaktionsniveau zu schaffen.
Kiew setzt Bemühungen zur Befreiung der besetzten Gebiete fort
Die ukrainische Regierung in Kiew zeigt sich unbeeindruckt von dem russischen Massnahmen-Paket. Mychailo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, formuliert es laut ntv so: «Das von Russland verhängte Kriegsrecht in besetzten Gebieten bedeutet nichts weiter als eine Pseudo-Legitimierung für die Plünderung ukrainischen Eigentums.» Die Ukraine werde weiterhin die Befreiung und Beendigung der Besetzung vorantreiben. Wladimir Putin hingegen betrachtet die ukrainische Offensive als Angriffe auf russisches Staatsgebiet.
Evakuierung von Zivilisten in der Stadt Cherson
Die prorussische Verwaltung in der heftig umkämpften südukrainischen Stadt Cherson hat mittlerweile alle Ministerien sowie die zivile und militärische Verwaltung an das linke Ufer des Flusses Dnjepr ausgelagert. Gleichzeitig wurde mit der Evakuierung von Zivilisten begonnen – wohl aus Furcht vor der ukrainischen Gegenoffensive. Ukrainische Regierungsvertreter sehen in der Massnahme vor allem Panikmache – denn ukrainische Streitkräfte würden nicht auf ukrainische Städte feuern.
Evacuation from Kherson region in full swing — Kremlin-installed officials say they are preparing for battle, aim to move 50-60K people "deeper into Russia" in a week, and entry into the region has been banned to civilians. Putin also plans to meet Sec Council today 🧐 pic.twitter.com/2SborTue66
Westliche Beobachter erwarten dennoch in Kürze weitere Vorstösse der ukrainischen Streitkräfte. Dazu Marcel Berni, Historiker an der Dozentur Strategische Studien in Forschung und Lehre an der ETH: «Diese laufen bereits auf Hochtouren.» Berni weiter: «Cherson ist seit Kriegsbeginn unter russischer Kontrolle. Die Ukraine macht zurzeit Geländegewinne im Umfeld der Stadt. Die russischen Truppen sind unter grossem Druck, speziell im nordwestlichen Teil der Oblast Donezk, westlich des Dnjepr.»
Was bedeutet das öffentliche Statement von Putins Ukraine-General Surowikin?
Die schwierige Lage der russischen Armee in der Umgebung der besetzten Gebiete dürfte auch den neuen Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine, General Sergej Surowikin, am vergangenen Dienstag dazu veranlasst haben, sich öffentlich zu den «schwierigen Entscheidungen» zu äussern, die es zu treffen gelte. Dies war seit den Anfängen des Putin-Regimes die erste öffentliche Stellungnahme eines hochrangigen Militärs zu einem kriegerischen Konflikt und macht die Brisanz der aktuellen Situation deutlich.
«Den russischen Truppen droht die Isolation und das Abschnüren von der russischen Logistik jenseits des Flusses», kommentiert Marcel Berni. «Für das russische Kommando stellt sich nun die Frage, ob es Sinn ergeben würde, diese Truppenteile aus der Stadt zurückzuziehen. Das würde aber heissen, die Stadt Cherson kampflos aufzugeben, was Putin wohl nicht goutieren würde. Das sind folglich schwierige operative Entscheidungen, bei denen die zivile Logik auf die militärische Planung trifft.»
Der Historiker und Militärexperte sieht in dem Auftritt Surowikins auch ein klares Zeichen an Putin: «Es zeigt sicherlich, dass der General in Anbetracht des drohenden Winters die russische Politik und Bevölkerung darauf aufmerksam machen will, dass der Krieg noch lange nicht entschieden ist – trotz Teilmobilmachung.»
Trotz Rückzug kein Abzug in Sicht
Trotz der Schwierigkeiten, vor denen die russische Armee insbesondere in der Region um Cherson steht, ist derzeit wohl kein Abzug der russischen Truppen absehbar. Bereits seit Ende August dauert jedoch die Gegenoffensive der Ukraine am westlichen Ufer des Dnjepr schon an. Dabei wurden viele Brücken beschädigt und die Versorgung der russischen Streitkräfte so erheblich erschwert.
Auch in der ostukrainischen Region Luhansk deutet nichts auf einen russischen Abzug hin. Im Gegenteil – dort scheint die russische Söldnertruppe Wagner derzeit eine mehrstufige Verteidigungslinie zu errichten.
Was geschieht, wenn die Ukraine die Stadt Cherson zurückerobert?
Marcel Berni hält hier zwei unterschiedliche Szenarien für denkbar – je nach Kampfstärke der ukrainischen Armee: «Erstens: Regeneration und Auffrischung der ukrainischen Truppen rechts des Dnjepr und dann eine Vorbereitung einer grösseren Offensive im oder nach dem Winter in Richtung Melitopol und Osten. Zweitens: Das Ausnützen des Angriffsschubs und die rücksichtslose Verfolgung der sich zurückziehenden russischen Soldaten in Richtung Osten.»