Wenig Hoffnung vor der Wahl In Grossbritannien stehen die Zeichen auf Resignation

AP/toko

4.7.2024 - 00:00

Die Menschen in Hartlepool der Küste Nordenglands haben wenig Hoffnung auf Wandel nach der Wahl.
Die Menschen in Hartlepool der Küste Nordenglands haben wenig Hoffnung auf Wandel nach der Wahl.
AP Photo/Scott Heppell/Keystone

Hartlepool an der Küste Nordenglands ist eine Stadt mit vielen Problemen, gezeichnet von industriellem Niedergang. Von der Parlamentswahl verspricht man sich hier wenig – und steht damit keineswegs alleine da.

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4.7.2024 - 00:00

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • In Grossbritannien findet am Donnerstag die Parlamentswahl statt.
  • Statt Hoffnung auf Wandel überwiegt dabei die Resignation auf der Insel.
  • Stellvertretend für die Stimmung im Land steht die Stadt Hartlepool an der Küste Nordenglands.
  • Dort gibt man auf die Versprechen der Politiker schon lange nichts mehr.
  • Die Stadt weist eine höhere Arbeitslosigkeit auf, niedrigere Einkommen, eine kürzere Lebenserwartung, mehr Drogentote und eine höhere Verbrechensrate als das Land als Ganzes.

Die Wähler in Hartlepool haben schon von vielen Politikern das Versprechen gehört, dass sich etwas ändern wird. Vertreter der Labour Party versicherten über lange Jahre hinweg, dass sie für die Werktätigen kämpfen würden, sogar auch dann noch, als gut bezahlte Jobs in der Industrie verschwanden. Später stellten die Konservativen neues Geld und neue Chancen durch den Brexit in Aussicht. Aber wenn die Menschen in dieser windgepeitschen Hafenstadt im Nordosten Englands am Donnerstag ihre Stimme bei der britischen Parlamentswahl abgeben, dann viele voller Zweifel, ob es diesmal wirklich einen Wandel geben wird. 

Denn trotz all der Jahre der Versprechen hat sich an Hartlepools vielen Problemen praktisch nichts geändert. Die Stadt weist eine höhere Arbeitslosigkeit auf, niedrigere Einkommen, eine kürzere Lebenserwartung, mehr Drogentote und eine höhere Verbrechensrate als das Land als Ganzes. Da wagen viele nicht zu hoffen, dass es die Politiker jetzt ernst meinen. 

Umfragen lassen landesweit einen Sieg der Labour Party über die regierenden Konservativen erwarten, aber viele Wähler waren in den Tagen vor der Abstimmung noch unentschieden – und noch mehr waren emotional erschöpft. Um nach 14 Jahren in der Opposition wieder ans Ruder zu kommen, muss Labour die desillusionierten Wähler in Hartlepool und anderen nördlichen Städten zurückgewinnen, da, wo Jahre wirtschaftlicher Verschlechterungen soziale Probleme verstärkt haben. Und auch ein Gefühl der Ernüchterung.

«Das Blaue vom Himmel herunter gelogen»

Beim letzten Mal habe er die Konservativen gewählt, den Versprechen von Boris Johnson geglaubt – der «das Blaue vom Himmel herunter gelogen hat», sagt Stan Rennie, ein Fischer, der seit 50 Jahren Hummer vor Hartlepools Küste fängt und jetzt, wie er sagt, kaum noch genug zum Leben verdient. «Ich glaube, weil wir der Nordosten sind, weiss die Regierung nicht einmal, dass es uns gibt. Wir sind das vergessene Land.»

Hartlepool, eine einst stolze Stadt, die 400 Kilometer nördlich von London in die Nordsee hineinragt, ist von industriellem Niedergang gezeichnet. Die Werften und Stahlwerke, die einst Tausende beschäftigten, sind längst nicht mehr da. Die Fischereiflotte ist seit Jahren am Schrumpfen. Beim Referendum 2016 stimmte Hartlepool klar für den Brexit. Sie glaubten den Worten von Johnson und anderen Befürwortern, dass der Ausstieg aus der EU den Briten wieder die Kontrolle über ihr Land zurückgeben und Milliarden Pfund für die angehängten, ehemaligen Industriezentren freisetzen würde.

Bei der Wahl drei Jahre später schwenkten viele Wahlkreise der englischen «Red Wall» – traditionell labourtreue Gebiete in den Midlands und im Norden – zu Johnsons Konservativen um. In Hartlepool konnte sich Labour noch bis zu einer Nachwahl 2021 halten, dann war es auch hier vorbei.

In den letzten paar Jahren hat die Stadt Regierungsgelder erhalten, um ihren Bahnhof aufzumöbeln, alte Gebäude zu restaurieren und die Strandpromenade wiederzubeleben. Aber es mangelt weiter an gut bezahlten Arbeitsplätzen. Im Stadtzentrum mit seinen zahlreichen leeren Ladenfronten muss die Rentnerin Sheila Wainwright nachdenken, als sie danach gefragt wird, was Politiker für Hartlepool getan haben. «Die Strandpromenade verbessert?», antwortet sie. Aber dann seien all die Läden geschlossen worden. «Ich denke nicht, dass du jemandem glauben kannst. Sie alle reden von diesen Sachen. Aber es geschieht nie etwas.»

Fischer fühlen sich betrogen

Jonathan Brash, Labour-Kandidat in dem Wahlkreis, hört ähnliche Klagen, wenn er in Hartlepool an die Türen klopft. Er sagt, dass er das Misstrauen verstehe. «Wohin die Leute auch immer zu blicken scheinen, finden sie ein Land vor, das nicht wirklich funktioniert. Unser öffentlicher Gesundheitsdienst ist in wirklichen Schwierigkeiten. Die Verbrechen auf unseren Strassen nehmen zu. Es gibt nicht genügend Polizisten. Unser öffentlicher Sektor ist den vergangenen 14 Jahren verfallen.»

Besonders stark fühlen sich Hartlepools Fischer betrogen, deren Gewerbe die Identität der Stadt geprägt hat. Viele von ihnen haben für den Brexit gestimmt, um sich von EU-Quoten und Bürokratie zu befreien, aber nur wenig hat sich geändert, wie sie sagen.

Und Ende 2021 kam noch ein weiteres Problem hinzu. Da wurden plötzlich viele tote und sterbende Schalentiere an der englischen Nordostküste angeschwemmt. Rennie und andere Fischer vermuten, dass im Zuge der Erschliessung eines alten Industriegeländes Gifte aus dem nahe gelegenen Fluss Tees freigesetzt wurden. Zwei Studien im Auftrag der Regierung haben das ausgeschlossen, aber keine andere Ursache identifiziert. «Unser Lebenswerk ist zerstört worden», klagt Rennie neben seinen Hummerfangkörben, die oft leer bleiben. Er sagt, dass seine Familie schon seit 500 Jahren Fischerei betreibe, aber «es wird mit mir sterben». 

Jerry Hopinkson: «Es gibt hier wirklich, wirklich grosse Möglichkeiten.»
Jerry Hopinkson: «Es gibt hier wirklich, wirklich grosse Möglichkeiten.»
AP Photo/Scott Heppell/Keystone

Hoffnung auf die Schifffahrt

Manche hoffen, dass ein anderer Aspekt des maritimen Erbes der Stadt – die Schifffahrt – Hartlepool Auftrieb geben wird. Sein 81 Hektar grosser Handelshafen beschäftigt bei Weitem weniger Leute als zu jener Zeit, als hier Schiffe gebaut wurden und Kohle verladen wurde. Aber es herrscht doch einige Aktivität, viel im Zusammenhang mit dem rasch wachsenden Sektor der erneuerbaren Energien. Unternehmen im Hafen stellen Unterwasserspulen für den weltgrössten Offshore-Windpark, Dogger Bank, her, der etwa 130 Kilometer vor der Küste gebaut wird. 

An das Projekt knüpft sich bei manchen die Erwartung, dass der Hafen und Hartlepool insgesamt eine grosse Rolle als Umschlagplatz für erneuerbare Energien und andere aufkommende Technologien spielen werden. «Es gibt hier wirklich, wirklich grosse Möglichkeiten. Viel mehr Fracht, viel mehr Schiffe», sagt Jerry Hopkinson von der Betreiberfirma PD Ports.

Labour-Kandidat Brash stösst ins selbe Horn, zumal seine Partei versprochen hat, Grossbritannien zu einer «Supermacht» in Sachen saubere Energien zu machen. Umfragen zufolge kann Brash hoffen, der Konservativen Jill Mortimer Hartlepools Parlamentssitz abzujagen, wenn auch viele Wähler wenig Begeisterung über beide Parteien äussern – Windenergie hin, Windenergie her.

AP/toko