London wenige Tage vor der WahlReiche machen noch mehr Geld – darum gehen Briten nicht wählen
Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London
2.7.2024
TV-Duell: Schlagabtausch zwischen Sunak und Starmer
Umfragen deuten darauf hin, dass Keir Starmer von der Labour-Partei auf dem besten Weg ist, die Wahl in Grossbritannien am 4. Juli mit grosser Mehrheit zu gewinnen.
28.06.2024
Am Donnerstag gehen die Brit*innen an die Urne. Alle Vorzeichen deuten darauf hin, dass ein Regierungswechsel von den Konservativen zu Labour bevorsteht. Ein Stimmungsbericht aus London.
Noch-Premierminister Richi Sunak ist fürwahr nicht zu beneiden. Seit er am 22. Mai das Datum für die nächsten Parlamentswahlen bekannt gab, nämlich Donnerstag, der 4. Juli, sind ihm nicht nur zwei linke Hände, sondern auch noch zwei linke Füsse gewachsen.
Schon die Ankündigung war ein symboltriefendes Debakel: Als Sunak mit grosser Nachricht und säuerlicher Miene vor die Nummer 10, Downing Street, trat, goss es in Strömen.
Rund 70 Tory-Parlamentarier*innen gaben sofort ihren Rücktritt bekannt, wohl im Wissen, dass ihre Partei inzwischen so viele Sympathien verspielt hatte, dass die Chancen auf eine Wiederwahl winzig waren.
Ein gefundenes Fressen für Symboljäger*innen
Ein paar Tage später bat Sunak in Belfast zur Pressekonferenz – ausgerechnet um die Ecke von jener Werft, von wo aus einst die Titanic ins Verderben lief. Auch das war ein gefundenes Fressen für Symboljäger*innen.
Zum Autor: Hanspeter Künzler
Bild: Privat
Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Künzler lebt seit 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussballspezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie blue News und die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».
Dass er die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie frühzeitig verliess, um in London ein TV-Interview zu filmen, das erst ein paar Wochen später ausgestrahlt werden sollte, war ein unerklärlicher Fauxpas, der ihm heftige Kritik auch aus den eigenen Reihen eintrug.
Und nun stellt sich heraus, dass Leute aus seinem innersten Kreis Insiderhandel betrieben hatten, indem sie dank ihres Vorwissens Wetten auf das Wahldatum abgeschlossen und entsprechende Gewinne kassiert hatten. Symbolik ahoi: Privilegierte Glückspilze verwenden ihre Position dazu, noch mehr Zaster in die eigenen Taschen zu schaufeln.
Warum die Absenz von Wahlpropaganda in den Strassen?
Mein Londoner Wahlkreis ist Queen’s Park & Maida Vale und liegt recht zentral im Nordwesten. Wie fast alle Gegenden in dieser Stadt gehören dazu Sozialsiedlungen ebenso wie mittelständische Dörfer sowie Villen, vor denen die Bentleys aufgereiht sind – und übrigens auch das Haus, wo Mick Jagger und Keith Richards gemeinsam ihren ersten Song schrieben.
Umspült von einem Meer von blauen – sprich: konservativ stimmenden Wahlbezirken –, war London immer eine Oase von Rot, also Labour. Angesichts der neuesten Umfrageziffern – Labour 40 Prozent der Stimmen, Tories 20 Prozent – müsste hier also Feststimmung herrschen. Wimpeln, Tafeln und «Vote Labour»-Posters überall, würde man meinen.
Dem ist aber nicht so.
Im Verlauf meiner täglichen 10‘000 Schritte begegne ich in meinen Strassen zwei kläglichen «Vote Labour»-Tafeln. Von den Kontrahenten tut sich nur ein unabhängiger Kandidat hervor, der mit dem Slogan «For the people, not a party» für sich wirbt.
Seine Flugblätter sind unter Scheibenwischer geklemmt oder liegen auf dem Trottoir herum. Just in dem Moment, wo ich eine der Labour-Tafeln fotografiere, kommt deren Besitzer aus dem Haus.
Lloyd ist lebenslanger Labour-Wähler, seine Tafel habe bereits vier Niederlagen auf dem Buckel, das sei genug, sagt er. Warum die frappante Absenz von Wahlpropaganda in den Strassen?
Man habe wohl entschieden, das Geld lieber in einem Wahlkreis auszugeben, wo der Ausgang knapp sein könnte. Daran, dass Labour das nächste Parlament dominieren wird, zweifelt auch im Pub niemand. Begeisterung kommt deswegen indes auch nicht wirklich auf.
Man ist nur froh, dass man die Tories endlich loswird
Keir Starmer, der Labour-Leader und mit höchster Wahrscheinlichkeit nächste Premierminister, bringt die politische Leidenschaft nicht ins Wallen.
Gerade Wähler*innen, die sich als «Working Class» bezeichnen würden, tun sich fast so schwer damit, einen Rechtsanwalt als einen der ihren zu anerkennen, wie einen Rishi Sunak, dessen Vermögen in der von der «Sunday Times» veröffentlichten Liste der reichsten Briten auf 651 Millionen Pfund geschätzt wird.
Man ist nur einfach froh, dass man die Tories endlich losgeworden ist. Und hat auch mehr als nur ein bisschen Angst: Das Erbe, das er nach 14 Tory-Jahren antritt, ist ein schwieriges.
Das Vertrauen in die Politiker ist nach all den Tory-Skandalen – siehe nur schon die Lockdown-Partien von Boris Johnsons, während die restliche Nation in ihren Stuben schmorte – auf den Nullpunkt gesunken.
Keir Starmer steht unter Zugzwang. Wer weiss, wie sich die gemeinschaftliche Unzufriedenheit äussern wird, wenn unter Starmer nicht innert kürzester Zeit erste Anzeichen einer Besserung sichtbar werden!
Der Frust der Brit*innen ist gross
Der Frust der Brit*innen ist gross. Fast überall fühlt man sich aus irgendeinem Grund verraten von den Tories. Im Norden wird moniert, dass vom Versprechen, das Wohlstandsgefälle zwischen Süd und Nord auszugleichen, so gut wie nichts erfüllt worden sei.
In den ländlichen Gegenden, traditionellerweise fest in konservativen Händen, echauffiert man sich darüber, dass es Noch-Premierminister Rishi Sunak allen grossen Worten zum Trotz nicht gelungen ist, den Strom von Einwanderern und Asylbewerbern zu verringern – ganz im Gegenteil.
Mehr oder weniger überall herrscht Entsetzen darüber, wie die Tories den National Health Service und andere Sozialdienste heruntergewirtschaftet haben.
Oder darüber, wie fast wöchentlich neue Fälle bekannt werden, wo die Tories dubiose Aufträge in ihren eigenen Kreisen verteilt haben.
Der Einfluss von Social Media und Verschwörungstheorien
Als Tony Blair 1997 Labour ebenfalls nach einer langen Durstrecke an die Macht führte, herrschte im Land auch sonst Feststimmung: Britpop mit Oasis und Blur sorgte für Partylaune, Kunst, Literatur und Fussball feierten eine Hausse, das Land rauschte auf einer Welle der Euphorie dahin.
Diesmal ist von Ekstase wenig zu spüren. Die Situation wird auch noch dadurch kompliziert, dass sich Starmer mit Problemen beschäftigen muss, die zu Blairs Zeiten noch in weiter Ferne lagen.
Genderfragen zum Beispiel oder die Situation in Palästina, die vor allem jüngere Vielleicht-WählerInnen besonders beschäftigt, oder der unkontrollierbare Einfluss von Social Media und Verschwörungstheorien.
Eine Umfrage des «Guardian» unter den 200'000 Besucher*innen des Glastonbury Festivals am Wochenende brachte immer wieder dieselben Reaktionen hervor – ungefähr die gleichen, denen ich auch in meinem Londoner Quartier begegnet bin:
Wer mit der Labour-Haltung betreffs Palästina oder Gender nicht einverstanden ist, stimmt Grün oder Liberal-Demokraten (so lang nicht die Gefahr besteht, dass deswegen ein Tory gewinnen könnte). Die anderen stimmen Starmer – alles andere wäre schlimmer.
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