Machtvakuum in Afghanistan«Washingtons Rückzug ist für Peking eine strategische Chance»
Von Philipp Dahm
5.7.2021
Wie damals bei der Roten Armee 1989 droht auch der Abzug der US-Truppen, Afghanistan ins Chaos zu stürzen. Nachdem sich Amerikaner, Sowjets und Briten dort eine blutige Nase geholt haben, ist jetzt China dran.
Von Philipp Dahm
05.07.2021, 15:57
Philipp Dahm
Das Land ist seit Jahrhunderten Zankapfel der Grossen und Mächtigen. Im 19. Jahrhundert geraten hier das russische Zarenreich und das Empire aneinander. Afghanistan bleibt in dem Konflikt ein eigenständiger Staat.
Aber nur, weil Queen Victoria und Zar Alexander II. Nikolajewitsch einen Puffer zwischen ihren Monarchien brauchen: Afghanistan bekommt 1873 sogar einen schmalen Gebirgsstreifen im Osten, damit die Mächte ja nicht aneinandergrenzen.
Der Wachankorridor trennt das heutige Tadschikistan im Süden, das einst zu Moskau gehörte, von Pakistan im Norden, das früher Teil von Britisch-Indien war. Gut 100 Jahre später ist Grossbritannien keine Weltmacht mehr – und Moskau verändert die politische Landkarte: Am Heiligabend 1979 rollt die Rote Armee ein und besetzt vom Norden her das Land.
Nach dem Rückzug der Russen 1989 entbrennt ein blutiger Bürgerkrieg, den die vorerst einzige verbliebene Weltmacht stoppen will. Doch nach den Briten und den Russen vermögen es auch die Amerikaner in 20 Jahren nicht, aus Afghanistan einen funktionierenden Staat zu machen. Wenn die USA dieser Tage ihre letzten Truppen abziehen, steht die nächste Grossmacht schon in den Startlöchern: China.
Der Kelch wird weitergereicht
Es ist, wie es Karl Marx gesagt hat: Die Geschichte wiederholt sich. Wie nach dem Abzug der Roten Armee 1989 droht auch die aktuelle Rückkehr der GIs in die USA der Startschuss dafür zu sein, dass endgültig Chaos in Afghanistan ausbricht: Kaum sind die US-Truppen weg, fällt ein Bezirk nach dem anderen an die Taliban.
Beispiel Bagram: Am Freitag wird das Nervenzentrum der Nato-Truppen geräumt. Bis Sonntag erobern die Islamisten postwendend 13 Bezirke, sodass ein Drittel des Landes heute schon wieder in der Hand der Taliban ist. Gleichzeitig ist Aschraf Ghani quasi unsichtbar: Der Präsident in Kabul gilt mittlerweile als abgehoben und realitätsfremd. Diplomaten zeigen sich enttäuscht: Ghani lebe in einer Fantasiewelt.
Mit der Rückkehr der Islamisten in Afghanistan kehren auch in anderen Regionen die Probleme zurück: Von hier dürften in naher Zukunft wieder Dschihadisten nach Syrien und Libyen reisen. Auf der östlichen Seite wähnt sich Indien nun als neuer «Frontstaat gegen den Terror».
Eine Landbrücke für China
Die muslimischen Extremisten stossen auch im Reich der Mitte auf wenig Gegenliebe: China will nicht nur eine Radikalisierung eigener religiöser Minderheiten verhindern, sondern schickt sich an, die nächste Grossmacht zu sein, die sich an Afghanistan versucht. Was man gern vergisst: Die beiden Staaten grenzen aneinander.
Ausgerechnet dank jenes Korridors, den sich die eifersüchtigen Briten und Russen einst im «Great Game» ausbedungen haben, existiert heute eine Land-Brücke, die auch noch Teil einer traditionellen Karawanen-Route ist – und damit wie gemacht für Pekings Neue Seidenstrasse.
Statt Islamismus über den afghanischen Wachankorridor zu importieren, will China auf diesem Weg seine Belt and Road Initiative exportieren: Peking lockt Kabul nun mit Milliarden-Investitionen in die Infrastruktur. The Daily Beast berichtet, dass Afghanistan in den China Pakistan Economic Corridor (CPEC) aufgenommen werden könnte.
«Immer intensiver» mit Kabul
Das Projekt, das beträchtliche Infrastruktur-Massnahmen zwischen China und Pakistan vorsieht und um die 65 Milliarden Dollar schwer sein soll, könnte um eine östliche Komponente erweitert werden, schreibt die US-Website unter Berufung auf afghanische Quellen: «Es gibt Diskussionen über eine Autobahn zwischen Peschawar [in Pakistan] und Kabul», heisst es.
Grünes Licht würde einer formalen Aufnahme in die CPEC gleichkommen, so die Lesart: Die Verbindung zwischen Afghanistan und China würde «immer intensiver» werden – was auch dem geschwächten Präsidenten Ghani entgegenkommt.
Schon jetzt bereitet sich Peking auf ein weiteres mögliches Engagement vor, indem es den pakistanischen Hafen von Gwadar ausbaut, der in Belutschistan an der afghanischen Grenze liegt. In der mehrheitlich muslimischen chinesischen Provinz Xianjiang wird derweil der Flughafen Taxkorgan erweitert.
Soldaten zur «Friedenssicherung»?
«Washingtons Rückzug ist für Peking eine strategische Chance», glaubt Michael Kugelman vom amerikanischen Thinktank Wilson Center. «Es wird mit Sicherheit ein Vakuum geben, das ausgefüllt werden muss, aber wir sollten auch nicht die Kapazität überschätzen, dieses auszufüllen. China kann seinen Fussabdruck nur so weit vergrössern, wie es die Sicherheitslage zulässt, die sicher bald aus dem Ruder laufen wird.»
Wenn der ökonomische Zugang nach Afghanistan versperrt sein sollte, gibt es alternativ immer noch den Weg der Waffen: Schon jetzt denken Experten in Peking laut darüber nach, chinesische Soldaten zur Friedenssicherung in die Region zu schicken.
Das hört sich mit Blick auf 1979 und 2001 bekannt an. Marx hat es ja gesagt: Die Geschichte wiederholt sich.
Hinweis: BBC hat vor zwei Tagen beeindruckende Fotos aus dem Wachankorridor publiziert, die hier zu sehen sind.