Lagebild Ukraine Was steckt hinter Russlands Grossaufgebot bei Charkiw?

Von Gil Bieler

19.7.2023

Russischer Raketenbeschuss auf die Ukraine festgehalten im Juli 2023 in Charkiw.
Russischer Raketenbeschuss auf die Ukraine festgehalten im Juli 2023 in Charkiw.
Bild: AP

100’000 Soldaten und Hunderte Panzer: Die Russen ziehen im Oblast Charkiw massiv Truppen zusammen. Die Ukraine befürchtet eine Offensive auf die Millionenstadt. Beobachter dagegen haben Zweifel.

Von Gil Bieler

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  • Die ukrainische Führung ist alarmiert: Russland habe an der Frontlinie in Kupjansk in der Region Charkiw 100’000 Soldaten und schweres Kriegsgerät stationiert.
  • Damit sollten mehr ukrainische Truppen gebunden werden – was die Gegenoffensive in anderen Landesteilen schwäche, befürchtet Kiew. Auch ein Grossangriff auf die Stadt Charkiw sei denkbar. 
  • Militär-Analysten dagegen ziehen die Schlagkraft der russischen Truppen an diesem Frontabschnitt in Zweifel. 

Die ukrainischen Truppen haben im Osten des Landes die Oberhand verloren. Das räumte Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maliar am Sonntag ganz offen ein: «Zwei Tage in Folge hat der Feind im Sektor Kupjansk in der Region Charkiw aktiv angegriffen. Wir sind in der Defensive», erklärte sie.

Russland intensiviert seine Anstrengungen, in der Region Charkiw die Wende hinzubekommen. Der Durchbruch bei Kupjansk und dem benachbarten Liman wird dabei besonders forciert.

Russen melden Vorrücken

Die russischen Truppen konnten nach eigenen Angaben zuletzt auf Kupjansk vorrücken. Das Verteidigungsministerium sprach am Dienstag von «erfolgreichen Offensiveinsätzen» in der Nähe der am Fluss Oskil gelegenen Stadt. Demnach seien die russischen Truppen an einem zwei Kilometer langen Frontabschnitt anderthalb Kilometer vorgerückt.

Das russische Militär berichtet von einem Vorstoss an der Front bei Kupjansk, gelb eingefärbt.
Das russische Militär berichtet von einem Vorstoss an der Front bei Kupjansk, gelb eingefärbt.
Grafik: Institute for the Study of War

Auch die ukrainischen Streitkräfte berichteten von einer «grossen Aufstockung der russischen Truppen» bei Kupjansk. Rund 100’000 Soldaten, 900 Panzer, über 550 Artilleriegeschütze und 370 Mehrfachraketen hätten die Russen dort zusammengezogen. All dies deute auf eine geplante Grossoffensive auf Charkiw hin, warnt die ukrainische Seite am Dienstag.

Was bedeutet dieser massive Zusammenzug der russischen Truppen? Das Ziel der Russen dürfte es wohl sein, weitere ukrainische Truppen an der Front bei Kupjansk zu binden, befürchtet Kiew. Mit dem möglichen Ziel, ihre Gegenoffensive im Süden und Osten des Landes zu schwächen.

Das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) kommt zum gleichen Schluss. Die russische Offensive an diesem Frontabschnitt diene wahrscheinlich dazu, «die ukrainischen Reserven von den kritischen Gebieten des Kriegsschauplatzes abzuziehen», analysiert die Denkfabrik in Lagebeurteilungen vom Montag und Dienstag. Namentlich gehe es darum, die ukrainischen Offensiven in Bachmut, westlich von Donezk und im Westen des Oblast Saporisch zu schwächen.

Gleichzeitig dürfte der Grossaufmarsch an der Front in Kupjansk kaum einen Wendepunkt des Kampfgeschehens bedeuten: «Die schlechte Qualität und Zusammensetzung der russischen Truppen, die derzeit auf dieser Linie stationiert sind, wird […] wahrscheinlich Russlands Fähigkeit behindern, mehr als taktisch bedeutsame Gewinne zu erzielen oder einen operativ bedeutsamen Durchbruch zu erreichen», lautet die Analyse.

Fragezeichen hinter «Sturm Z»-Einheiten

Was die Amerikaner mit der fraglichen Verfassung der russischen Truppen meinen, führen sie auch gleich aus. So seien die aus Häftlingen rekrutierte «Sturm Z»-Einheiten nach Kupjansk verlegt worden. Die Bildung dieser Sondereinheit – die mutmasslich die Wagner-Söldnertruppe beerben soll – war erst im Frühling bekanntgeworden.

«Aufgrund ihrer schlechten Moral und Disziplin» trauen die Experten des ISW den ehemaligen Häftlingen aber «nur eine geringe operative Effizienz» zu. Ausserdem sei die ebenfalls dorthin verlegte 1. Gardepanzerarmee «stark beeinträchtigt».

Auch Oleksyj Melnyk, Militärexperte des Kiewer Rasumkow-Instituts, setzt ein Fragezeichen hinter die Schlagkraft der russischen Truppen: «Ein Grossteil dieser Truppen ist für Logistik zuständig», sagte Melnyk der «Frankfurter Rundschau» zufolge, die eigentlichen Angriffsstärke liege wohl eher bei 20’000 Mann.

Auf russischer Seite dagegen hofft man, dass sogar die Einnahme der Millionenstadt Charkiw nun endlich gelingen könnte. Dies prophezeit jedenfalls die Zeitung «Moskowskij Komsomoljez».

Daran hatten sich die Russen schon bei ihrem ersten Einmarsch in die Ostukraine im Jahr 2014 die Zähne ausgebissen – und Wladimir Putin dürfte das nicht vergessen haben.

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