Fragen und Antworten Was erwartet die Soldaten aus dem Stahlwerk nun?

toko

17.5.2022

Das Drama um das belagerte Stahlwerk in Mariupol bekommt ein weiteres Kapitel — rund 260 zum Teil schwer verletzte Soldaten dürfen die Anlage verlassen. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

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17.5.2022

Ein Glas Wasser pro Tag und kaum mehr Medikamente: Die teils schwer verletzten ukrainischen Soldaten harrten unter unmenschlichen Bedingungen im Mariupoler Asowstal-Werk aus und warteten auf dessen scheinbar unvermeidliche Erstürmung. Zunächst jedoch kommt es anders.

264 ukrainische Soldaten sind am Montag aus der seit Wochen von russischen Truppen belagerten Anlage des Konzerns Asow-Stahl in der strategisch wichtigen Hafenstadt am Asowschen Meer evakuiert worden.

Wie es für sie nun weitergeht und was die Entwicklungen in Mariupol für den Krieg bedeuten. Die Antworten auf die wichtigsten Fragen:

Was ist passiert?

53 Schwerverletzte sind dem ukrainischen Verteidigungsministerium zufolge am Montag zur Behandlung nach Nowoasowsk und 211 weitere Soldaten nach Oleniwka gebracht worden. Beide Orte liegen in Gebieten unter Kontrolle des russischen Militärs.

Fünf Busse mit Soldaten aus Asowstal trafen am späten Montag in Novoazowsk ein, berichtetet die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf Augenzeugen.

Der russische Fernsehsender RT zeigte ein Video von etwa zehn bis zwölf Bussen, die das Stahlwerk verliessen. Bei den Bussen handelte es sich offenbar um eine Mischung aus Krankentransportern und herkömmlichen Bussen, von denen einige mit einem roten Kreuz gekennzeichnet waren. Die Transporter wurden von russischen Militärfahrzeugen eskortiert, die zum Teil mit einem «Z» bemalt waren, dem Symbol der russischen Streitkräfte in der Ukraine.

Das russische Verteidigungsministerium hatte am Montag lediglich eine Waffenruhe in Mariupol verkündet, um verletzte ukrainische Soldaten aus dem Stahlwerk zu holen. Moskau hatte «medizinische Einrichtungen» in Nowoasowsk als Ziel der Evakuierungsaktion genannt.

Wie das Ministerium am Dienstag mitteilt, haben sich die aus dem belagerten Stahlwerk in Mariupol evakuierten ukrainischen Soldaten «ergeben» und befinden sich nun in russischer Gefangenschaft. 265 Kämpfer hätten binnen 24 Stunden ihre Waffen niedergelegt, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow. 51 von ihnen seien mit schweren Verletzungen zur Behandlung nach Nowoasowsk gebracht worden. Die Zahlen unterscheiden sich geringfügig von den Angaben aus Kiew.

«Wir hoffen, dass wir das Leben unserer Jungs retten können», erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft am Montagabend. «Ich möchte unterstreichen: Die Ukraine braucht ihre ukrainischen Helden lebend. Das ist unser Prinzip.»

An der Evakuierung der Soldaten aus dem Stahlwerk seien neben ukrainischen Behörden unter anderem auch das Internationale Rote Kreuz und die Vereinten Nationen beteiligt gewesen.

Zu Wort meldete sich später auch das Asow-Regiment, eine von mehreren Einheiten, die auf dem Werksgelände ausgeharrt und es verteidigt hatten. Die Evakuierung der Kämpfer markiere das Ende der Mission des Regiments, erklärte Befehlshaber Denis Prokopenko. «Absolut sichere Pläne und Operationen existieren im Krieg nicht.» Dennoch seien alle Risiken berücksichtigt worden. Es gelte, so viele Leben von Kämpfern zu retten wie möglich.

Das von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte Bild zeigt, wie Soldaten der sogenannten Volksrepublik Donezk einen Bus mit verwundeten ukrainischen Soldaten in Mariupol begleiten. 
Das von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte Bild zeigt, wie Soldaten der sogenannten Volksrepublik Donezk einen Bus mit verwundeten ukrainischen Soldaten in Mariupol begleiten. 
Alexey Kudenko/Sputnik/dpa

Wie geht es für die Soldaten nun weiter?

Im Verlauf der russischen Invasion haben Kiew und Moskau bereits mehrfach Gefangene ausgetauscht. Das soll offenbar auch diesmal passieren. 

Die Soldaten sollen zu einem späteren Zeitpunkt «ausgetauscht» werden, wie die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar in einer Videobotschaft sagte.

Ob es tatsächlich zu dem von Kiew erhofften Gefangenenaustausch kommen wird, liess Russlands Militär zunächst offen.

Berichte von Ehefrauen und Freundinnen der Soldaten deuten an, unter welchen entsetzlichen Bedingungen die Verteidiger zuletzt ausharrten.

Die Frau eines Angehörigen des Asow-Regiments beschrieb am Montag die Bedingungen in der Anlage: «Sie sind in der Hölle. Jeden Tag erhalten sie neue Wunden. Sie sind ohne Beine oder Arme, erschöpft, ohne Medikamente», sagte Natalia Zaritskaya.

Ein verletzter Soldat des Asow-Regiments.  
Ein verletzter Soldat des Asow-Regiments.  
EPA/REGIMENT AZOV PRESS SERVICE HANDOUT/Keystone

Was bedeutet das für den Krieg?

Die Evakuierung läutet das Ende einer der brutalsten Schlachten des Krieges ein — und damit letztlich eine Niederlage für die ukrainischen Streitkräfte.

Der Generalstab der ukrainischen Armee erklärte in der Nacht zum Dienstag, die Soldaten hätten «ihren Kampfauftrag erfüllt». Die Kommandeure hätten den Befehl, «das Leben» der verbliebenen Soldaten zu «retten». Die Bemühungen um deren Entsetzung würden fortgesetzt.

«Dank der Verteidiger von Mariupol haben wir kritisch wichtige Zeit für die Formierung von Reserven, eine Kräfteumgruppierung und den Erhalt von Hilfe von unseren Partnern erhalten», schrieb Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar bei Facebook.

Alle Aufgaben zur Verteidigung von Mariupol seien erfüllt worden. Ein Freikämpfen von Azovstal sei nicht möglich gewesen, betonte sie. Das Wichtigste sei jetzt, das Leben der Verteidiger von Mariupol zu schützen.

Dem Generalstab zufolge hatte der erbitterte Widerstand der Soldaten in Mariupol jedoch den Vormarsch der russischen Streitkräfte auf die Grossstadt Saporischschja, die sich nach wie vor in ukrainischer Hand befindet, entscheidend verlangsamt.

Rauch steigt aus dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf. Noch immer harren hier Kämpfer aus.
Rauch steigt aus dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol auf. Noch immer harren hier Kämpfer aus.
-/AP/dpa

Die Schlacht um das Asowstal-Werk in Mariupol wurde in den vergangenen Wochen zu einem Symbol des erbitterten Widerstands und der grossen Opferbereitschaft der Ukraine gegen die übermächtigen Invasoren Putins.

Die Hafenstadt Mariupol war bereits kurz nach dem russischen Einmarsch im Februar eingekesselt worden. Die strategisch wichtige Grossstadt war heftigen Bomben- und Raketenangriffen ausgesetzt. Experten und ukrainische Behörden gehen von Tausenden Toten in der Zivilbevölkerung aus. Die russischen Truppen übernahmen nach der Belagerung schrittweise die Kontrolle. Die letzten ukrainischen Verteidiger der Stadt verschanzten sich jedoch in dem riesigen Stahlwerk mit mehreren unterirdischen Etagen.

Die russischen Truppen riskierten keinen Erstürmungsversuch, riegelten aber alle Zugänge ab. «Blockiert diese Industriezone so, dass nicht einmal eine Fliege rauskommt», wies Kremlchef Wladimir Putin sein Militär vor laufender Kamera an. Das Gelände wurde immer wieder bombardiert

Die ukrainischen Truppen in Asowstal haben nach eigenen Angaben 82 Tage lang in Bunkern und Tunneln teils verletzt und unter widrigsten Bedingungen ausgeharrt

Wer ist noch im Stahlwerk?

Die Zahl der verbliebenen Soldaten wurde von ukrainischer Seite nicht genannt. In der vergangenen Woche erklärten die ukrainischen Behörden gleichwohl, es befänden sich noch rund tausend ukrainische Soldaten, darunter 600 Verletzte, in den Tunnelsystemen auf dem Werksgelände.

Medienberichten zufolge sollen sich noch mehrere hundert Soldaten auf dem Gelände befinden. Die Bemühungen zur Evakuierung der verbliebenen Soldaten sollten nach ukrainischen Angaben am Dienstag fortgesetzt werden.

Die Regierung werde «alle notwendigen Rettungsmassnahmen» zur Befreiung der verbliebenen «Verteidiger» auf dem Gelände von Asow-Stahl ergreifen, erklärte das ukrainische Verteidigungsministerium auf Telegram.

Hunderte Zivilisten, die vor vorrückenden russischen Truppen ebenfalls ins Stahlwerk flüchteten, waren bereits in den vergangenen Tagen vom Werksgelände evakuiert worden.

Der stellvertretenden Regierungschefin Iryna Wereschtschuk zufolge sei die «humanitäre Operation» weiter im Gange. Auf Telegram schrieb sie am Dienstagvormittag: «Im Interesse der Rettung von Menschenleben wurden gestern 52 unserer schwer verwundeten Soldaten evakuiert. Nachdem sich ihr Zustand stabilisiert hat, werden wir sie gegen russische Kriegsgefangene austauschen. Wir arbeiten an den nächsten Etappen der humanitären Operation. So Gott will, wird alles gut werden.»

Mit Material von dpa, afp und ap.