Knast, Krieg, Freiheit Begnadigte Wagner-Söldner versetzen russische Frauen in Angst

gbi

21.8.2023

Wagner-Kämpfer bei einem Putschversuch im russischen Rostow am Don am 24. Juni 2023.
Wagner-Kämpfer bei einem Putschversuch im russischen Rostow am Don am 24. Juni 2023.
Bild: Ap

«Resozialisierung» à la Kreml: Wenn russische Häftlinge in der Ukraine kämpfen – und überleben – dürfen sie in ihr altes Leben zurückkehren. Bei den Opfern dieser Verbrecher in Russland weckt das Ängste. 

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Für den Krieg in der Ukraine rekrutiert die russische Regierung auch Zehntausende Häftlinge.
  • Nach einem sechsmonatigen Kriegseinsatz sollen sie in Freiheit entlassen werden. 
  • Doch bei Opfern und Angehörigen der Gewalttaten, für die die Männer überhaupt verurteilt wurden, löst das grosse Angst aus. 
  • Eine Menschenrechts-Aktivistin berichtet von Anfragen besorgter Frauen, die sich häufen.

Der Deal ist klar: Russische Häftlinge können sich ein Leben in Freiheit verdienen. Oder besser: erkämpfen. Wenn sie sechs Monate für die russischen Truppen in der Ukraine kämpfen und überleben, dürfen sie in ihr altes Leben zurückkehren.

Mit diesem Versprechen konnte der Kreml Schätzungen zufolge seit Herbst 2022 Zehntausende Soldaten für seinen Feldzug in der Ukraine gewinnen. Die meisten sollen für die Privatarmee Wagner kämpfen. Deren Chef, Jewgeni Prigoschin, nannte im Juni die Zahl von 32’000 Ex-Häftlingen, die so «resozialisiert» worden seien. Das war wohlgemerkt noch bevor er wegen eines misslungenen Putsch-Versuchs bei der russischen Regierung in Ungnade fiel.

Auch wenn die genauen Zahlen im Dunkeln liegen: Das weckt Angst in der russischen Bevölkerung. Denn so kehren auch Männer in die Mitte der Gesellschaft zurück, die wegen erschreckender Verbrechen überhaupt ins Gefängnis gesteckt wurden. Männer wie Wladislaw Kanius etwa.

Ex-Freundin stundenlang gefoltert – bis zum Tod

Kanius wurde für die Ermordung seiner Ex-Freundin Vera Pekhteleva zu 17 Jahren Haft verurteilt. Er hatte sie über Stunden malträtiert, die Nachbarn hätten wegen der Schreie mehrmals die Polizei angerufen. Doch die Polizei kam nicht, wie der britische «Guardian» schreibt, der den Fall nun erneut aufrollt.

Vera Pekhteleva starb mit 23 Jahren. Ihre Leiche wies 111 Verletzungen auf.

Der Fall, der sich 2020 ereignete, war laut Bericht derart drastisch, dass er in Russland weite Beachtung fand, obschon Gewalt gegen Frauen kaum je auf dem Radar der Öffentlichkeit lande.

Nun ist Wladislaw Kanius wieder aus der Gefängniszelle herausgekommen. Mitte Mai habe die Mutter der getöteten Ex-Freundin zwei Fotos erhalten, die einen Mann in Kampfanzug zeigten, dazu der Text: «Kanius ist frei und kämpft in der Ukraine.»

«Ich traute meinen Augen nicht und versuchte, sie zu beruhigen und ihr zu sagen, dass das nicht echt war, sondern Photoshop», sagte ein Onkel der Ex-Freundin, der in der sibirischen Stadt Kemerowo lebt, zum «Guaridan». «Aber uns wurde schnell klar, dass es real war.»

Die Familie des Opfers war alarmiert und reichte einen Antrag bei der zuständigen Gefängnisbehörde ein, um Klarheit über Kanius’ Verbleib zu erhalten. Ihnen wurde mitgeteilt, dass er in ein Gefängnis in der Region Rostow nahe der Grenze zur Ukraine verlegt und danach verschwunden sei. Aktivist*innen zufolge ist dies eine typische Taktik der Behörden, um die Rekrutierung von Häftlingen zu verschleiern.

Es sei unklar, ob Kanius noch am Leben sei und wo er stecke, heisst es in dem Bericht. Auf einem Social-Media-Kanal sei er aber immer noch aktiv. Für die Familie des Mordopfers ist das äusserst belastend: Die Mutter der getöteten Ex-Freundin befürchte, dass er sich nun an ihnen rächen wolle. «Was, wenn sie ihn auf der Strasse antrifft?», fragt der Onkel.

Ex-Häftlinge morden nach dem Kriegseinsatz

Die Sorge der Familie Pekhteleva ist nicht aus der Luft gegriffen: Ex-Häftlinge fallen nach ihrer Rückkehr in ihren Alltag mit teils schweren Straftaten auf, wie die Nachrichtenagentur AP, das russische Exilmedium «Meduza» sowie das Kreml-kritische Portal «Verstka» recherchierten. Beim Studium von Gerichtsakten stiessen sie auf schwere Straftaten wie Mord, sexuellen Missbrauch oder Pädophilie, die begnadigte Ex-Häftlinge begangen hatten.

Demnach wurden im Frühjahr zum Beispiel mehrere begnadigte Kämpfer der Wagner-Gruppe wegen Mordes angeklagt. Einer von ihnen, 28 Jahre alt, habe in der Region Kirow eine 85-jährige Frau ermordet. Und im April habe ein 31-Jähriger in der Region Krasnodar zwei Menschen getötet, fasst der deutsche «Tagesspiegel» die Recherche-Ergebnisse zusammen.

Ohne die Möglichkeit, sich durch Kriegsdienst die Freiheit zu erkaufen, würden beide Männer noch immer ihre Haftstrafen absitzen.

Wenn Vergewaltiger als «Helden» gelten

Im «Guardian» äussert sich die Menschenrechtsaktivistin Alene Popowa, die sich gegen Gewalt an Frauen einsetzt. Die Anfragen besorgter Frauen würden sich häufen, sagt sie. «Sie wissen, dass die Polizei nichts unternehmen wird, wenn die Männer, die sie gequält haben, aus dem Krieg zurückkommen und sie wieder schlagen oder sogar töten, weil diese Männer jetzt als Helden und nicht als Vergewaltiger oder Mörder angesehen werden.»

Laut Recherchen von AP werden Ex-Kämpfer nach ihren erneuten Straftaten von der Justiz tatsächlich milde behandelt. Demnach würden die früheren Verurteilungen der begnadigten Häftlinge aus dem Strafregister gelöscht.

«Das bedeutet: Sie können nicht mehr als erschwerende Umstände geltend gemacht werden. Härtere Strafen sind so oft nicht möglich», heisst es beim «Tagesspiegel». 

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04.08.2023