Lagebild UkraineVon Belgorod bis Saporischschja – jetzt muss Russland sich strecken
Von Philipp Dahm
23.5.2023
blue News erklärt: Was von Bachmut übrig bleibt
Hat die russische Armee Bachmut nun erobert? Hat sich der Aufwand für den Kreml gelohnt? Und wo werden Moskaus Kräfte danach zuschlagen? blue News erklärt dir in eineinhalb Minuten, was Sache ist.
22.05.2023
Den Kreml plagen Probleme: Die russische Armee muss nicht nur Eindringlinge im eigenen Land bekämpfen, sondern auch die Truppen in Bachmut verstärken. Das bindet Kräfte, die nun in der Südukraine fehlen.
Von Philipp Dahm
23.05.2023, 13:30
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Der Vorstoss auf russisches Gebiet im Oblast Belgorod bindet Moskaus Soldaten. Der Einsatz ist weiterhin im Gange.
Der Kreml hat in der Ukraine ausserdem Truppen aus dem Süden nach Bachmut verlegt, um die Flanken zu stärken.
Das wäre ein Vorteil, wenn die ukrainische Gegenoffensive wie spekuliert im Süden stattfindet. Indikatoren sprechen dafür.
Die Konfusion um die Gegenoffensive könnte gewollt sein: Wird sie wirklich angekündigt, müsste Kiew wohl schnell Ergebnisse liefern.
Die russische Seite schöpft keinen Verdacht, als am Morgen des 22. Mai das ukrainische Artilleriefeuer beginnt. Siedlungen hinter der Grenze im Oblast Belgorod geraten unter Beschuss. Sie liegen samt und sonders an der Verbindungsstrasse in die russische Stadt Belgorod, die ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt für das russische Militär ist.
Nun ist klar: Das Ganze dient der Vorbereitung eines überraschenden Vorstosses: Zwei Panzer, ein gepanzertes Fahrzeug und neun Humvees erobern im Handstreich den russischen Grenzposten, holen Truppen nach, die sich verteilen und vier Siedlungen stürmen, die weiter östlich an der Strasse liegen.
Die Gruppe zieht Verstärkung nach, sprengt hinter Graiworon angeblich eine Brücke, besetzt eine Polizeistation, kapert einen Schützenpanzer und lässt ein Gebäude in die Luft gehen, das dem russischen Geheimdienst FSB gehören soll. Die Truppe besteht nach eigener Aussage aus Mitgliedern der Legion Freiheit Russlands, die im März 2022 in der Ukraine gegründet worden ist, sowie anderen oppositionellen Russen.
Graiworon ist nur gut acht Kilometer von einem Lager entfernt, in dem Russland Atomwaffen lagert: Das Lager Belgorod-22 ist laut dem ukrainischen Geheimdienst umgehend geräumt worden. Moskaus Militär kann die Eindringlinge schliesslich mit Artillerie, Infanterie, Drohnen, Helikoptern und Jets stoppen. Graiworon wird dabei offenbar zurückerobert, der Einsatz ist weiter im Gange.
Russland verstärkt Truppen bei Bachmut
Die ukrainische Führung will mit dieser Aktion nichts zu tun haben – doch nützlich ist sie schon. Das russische Militär muss sich gerade heftig strecken: Es gilt nicht nur, die Heimatfront zu sichern, sondern auch die eigenen Truppen im ostukrainischen Bachmut zu unterstützen, die am Rand der Stadt ausharren.
BAKHMUT CITY /1315 UTC 22 MAY/ Wagner forces have consolidated gains in Khromove district, securing the remaining contiguous urban areas of Bakhmut. UKR maintains Lines of Communication and Supply (LOCS); its positions at Chasiv Yar prevent RU advances beyond the city. pic.twitter.com/TKtZkd9UGb
Zum Beispiel in Klischtschijwka: Durch die Verstärkung ist der ukrainische Vormarsch auf das Dorf vorerst gestoppt, das rund vier Kilometer südlich von Bachmut liegt. In Bachmut selbst rückt angeblich Russland wenige Hundert Meter weiter nach Westen vor, während die Gegenseite nördlich der Stadt Boden gutmacht.
— Special Kherson Cat 🐈🇺🇦 (@bayraktar_1love) May 22, 2023
Die Entwicklungen könnten durchaus im Interesse Kiews sein: Die Russen, die in Bachmut und im Oblast Belgorod kämpfen, fehlen im Süden, wo alle Welt die grosse ukrainische Gegenoffensive erwartet. Hinzu kommt, dass die Infanterie bei der Verlegung verletzlich ist, wie der obige Tweets zeigt: Die ukrainische Artillerie fügt den Angreifern schwere Verluste zu, wenn sie sie entdeckt.
Viele Indikatoren – aber keine Gegenoffensive
Jewgeni Prigoschin kündigt derweil an, seine Wagner-Söldner würden die Kontrolle über Bachmut am 1. Juni der regulären russischen Armee übergeben und sich zurückziehen. Ob es so weit kommt, sei dahingestellt, doch Moskau kann es sich eigentlich nicht leisten, noch mehr Personal zu verlieren.
Die ukrainische Führung hält derweil ihren Kurs bei – indem sie sich nicht in die Karten schauen lässt. Theoretisch gibt es viele Indikatoren für eine Grossoffensive im Süden: Die Artillerie nimmt wichtige Ziele weit hinter der Front unter Beschuss. In Berdjansk am Asowschen Meer wird ein Ziel beim Flughafen getroffen, in Tokmak auf dem Weg nach Melitopol sind Explosionen zu hören – und auch Mariupol wird angegriffen.
Und dann verkünden die ukrainischen Streitkräfte auch noch ganz offiziell, dass sie trainieren, einen Brückenkopf am Dnjepr zu bilden. Demnach geht es zwar eher um den Norden des Landes, wo nach «unfreundlichen Handlungen von Belarus» eine Fluss-Division aufgestellt wurde. Dass diese aber auch im Süden wirken könnte, liegt auf der Hand.
Kalkuliert Kiew mit Konfusion?
Der Nachrichtensender CNN meint, die grosse Gegenoffensive sei «von Konfusion umhüllt». Aber: «Das könnte der Plan sein.» Präsident Wolodymyr Selenskyj steckt in der Zwickmühle, glaubt der US-Sender: «Sobald er sagt, dass sie gestartet hat, tickt sofort die Uhr wegen erster Ergebnisse.» Die Öffentlichkeit werde wohl erst davon erfahren, wenn Kiew etwas vorzuweisen hätte.
Russische Blogger warnen an allen Fronten vor dem Gegenangriff, doch Moskau hat vor allem die Verteidigung im Süden gestärkt, erklärt die britische BBC. Satellitenbilder zeigen demnach, dass der Kreml mit einem Angriff im Süden rechnet: Tokmak auf dem Weg nach Melitopol, die Autobahn E105 von Saporischschja nach Melitopol und Mariupol sind angeblich die Schwerpunkte – und sogar die Westküste der Krim soll befestigt sein.
OVERHEAD IMAGES: The BBC analyzes satellite photos of Russia’s defensive lines in occupied Ukraine. Moscow’s static defensive positions are likely to be bi-passed in a fast moving Ukrainian combined arms offensive. https://t.co/wIA8wXR2rWpic.twitter.com/qsWuvmjUvA
Fest steht aber auch: Je länger Kiew die Gegenoffensive herauszögert, desto mehr westliche Waffen können eingesetzt werden. Essenziell dabei: die Munition. Nachdem die USA erst am 9. Mai Militärhilfen in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar ausgesprochen haben, legt Washington nur zwölf Tage später 375 Millionen Dollar nach – für Himars-Raketen, Artillerie-Granaten und weiteres mehr.
Low level attack run in the rain by Ukrainian Su-25 Blue 48, firing S-13 122mm unguided rockets. pic.twitter.com/kgYB4HJ2Ey