Nahost-Experte «Viele Menschen sterben, und am Ende ist man kein bisschen weiter»

Von Andreas Fischer

12.5.2021

Bei den jüngsten Raketen- und Luftangriffen starben in Israel und im Gazastreifen bislang mehr als 50 Menschen.
Bei den jüngsten Raketen- und Luftangriffen starben in Israel und im Gazastreifen bislang mehr als 50 Menschen.
Bild: KEYSTONE

Raketen in die eine Richtung, Luftangriffe in die andere: Die Eskalation der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern habe sich angekündigt, sagt Roland Dittli. Der Nahost-Experte befürchtet weiteres Blutvergiessen.

Von Andreas Fischer

12.5.2021

Die Gewalt ist so heftig wie nie seit dem Gaza-Krieg von 2014: Seit Anfang der Woche bekämpfen sich Israel und die Hamas mit aller Härte. Mehr als 1000 Raketen wurden aus dem Gazastreifen in Richtung Israel abgefeuert, die israelische Luftwaffe reagiert mit Vergeltungsangriffen. Bilanz bis Mittwochnachmittag: Mehr als 50 Tote, Hunderte Verletzte – und kein Ende in Sicht.

Im Gespräch mit «blue News» erklärt Nahost-Experte Roland Dittli von der Friedensstiftung Swisspeace, wie verfahren die Situation wirklich ist, warum sich der Konflikt eher noch verschärfen wird und warum die Schweiz als eines von wenigen Ländern Kontakte zur Hamas unterhält.

Zur Person
zVg/Swisspeace

Roland Dittli hat in Bern Europäische Geschichte studiert. Bei der «Schweizerischen Friedensstiftung – swisspeace» leitet der Konfliktforscher das Peacebuilding Analysis and Impact Program. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sind die besetzten palästinensischen Gebiete. Swisspeace ist ein Institut für Friedensforschung und -förderung mit Sitz in Basel. Es ist unabhängig, mit der Universität Basel assoziiert und fördert den Wissenstransfer zwischen Forschern und Praktikern.

Warum eskaliert der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gerade jetzt?

Es gibt immer verschiedene Auslöser. Generell ist die Situation aber schon seit Längerem derart angespannt, dass eine Eskalation erwartbar war. Das Pulverfass brauchte nur einen Funken, um zu explodieren. Das war allen Beteiligten bewusst. Diesen Funken gab es nun in Jerusalem.

Was ist dort passiert?

Die israelische Polizei hat zum Ende des Ramadan eher unsensibel und kurzsichtig versucht, mit Absperrungen am Damaskus-Gate, dem Haupteingang zum arabischen Teil der Jerusalemer Altstadt, neue Kontrollmassnahmen einzurichten und grössere Versammlungen zu verhindern. Dagegen haben viele Jugendliche unorganisiert, aber sehr vehement protestiert.

Parallel dazu gibt es die Zwangsräumungen von palästinensischen Wohnungen im Stadtteil Scheich Dscharrah. Diese schleichende Übernahme des Stadtteils durch rechtsnationale jüdische Gruppen ist seit vielen Jahren eine offene Wunde.

Kommt als dritter Grund die Covid-Lage hinzu: Es ging allen schlecht in der Pandemie, aber den Palästinensern noch ein wenig schlechter. Auf der palästinensischen Seite ist die Verzweiflung aufgrund der lang anhaltenden Krise sehr gross.

Wieso wurde von politischer Seite nicht deeskalierend eingegriffen?

Auf der israelischen Seite gibt es seit zwei Jahren keine stabilen Mehrheitsverhältnisse und generell gab es in der Zeit der Trump-Administration in den USA keinen politischen Willen, um den Konflikt mit den Palästinensern nachhaltig zu lösen. Aber auch die Palästinenser haben schon seit Langem keine legitimierte Führung mehr. Man kann politisch und diplomatisch also kaum effektive friedensfördernde Massnahmen aufgleisen, sondern alle Akteure sind im Status quo gefangen.



Hilft die Eskalation dem Fatah-Führer Mahmud Abbas und Israels Premierminister Benjamin Netanjahu? Können sie überhaupt etwas tun, um den Konflikt zu beenden?

Abbas hatte nicht unbedingt ein Interesse an einer Eskalation. Auch Netanjahu dürfte eigentlich nichts daran gelegen haben. Aber jetzt, da die Eskalation Tatsache ist, nutzt es ihm eher, wenn nicht so schnell wieder Ruhe einkehrt. Insbesondere weil es auch auf der israelischen Seite eine steigende Zahl von Todesopfer zu beklagen gibt, muss er sich als starker, agierender Mann darstellen. Zumal der Konflikt von der Pattsituation nach den letzten Wahlen und seiner Unfähigkeit, eine Regierungsmehrheit zu bilden, ablenkt. Und es läuft ja auch noch ein juristischer Prozess gegen ihn.

Auf der anderen Seite hat Abbas vor Kurzem die Wahlen verschoben: Inwiefern hat das zur Verschärfung der Lage beigetragen?

Die Absage hat den Palästinensern eine Perspektive genommen. Eigentlich hatte man erwartet, dass Abbas nach der Absage das Thema Einheitsregierung forcieren würde. Das hat er allerdings nur angedeutet, ohne konkret zu werden. Das dürfte die Hamas, die einer Eskalation nicht abgeneigt ist, in ihrer Denkweise bestärkt haben. Sie kann sich nun als agierende Partei darstellen, die die Rechte der Palästinenser verteidigt – mit allem, was sie hat. Und dazu gehören in ihrem Verständnis auch die Raketen.

Wie konnte die Hamas das augenscheinlich riesige Arsenal überhaupt aufbauen?

Waffen von höherer technologischer Machart wie zum Beispiel Panzerabwehrraketen werden von Schmuggelnetzwerken vom Sinai über weiterhin bestehende Tunnels in den Gazastreifen geschmuggelt. Die genauen Herkunftskanäle lassen sich schwer identifizieren: Man kennt aber die Interessen des Iran und der Hisbollah, die Hamas als befreundete Kraft im Gazastreifen zu versorgen. Kommt hinzu, dass die Palästinenser auch eine lokale Waffenproduktion haben. Viele der dort hergestellten Projektile sind aber technologisch auf einem tiefen Niveau und sehr ungenau, was ihre Gefährlichkeit natürlich nicht reduziert.

Wie heftig ist dieser Konflikt – auch im Vergleich zu früheren Eskalationen?

Die politische Situation in Israel spricht dafür, dass weiter an der Eskalationsschraube gedreht wird, um das Abschreckungspotenzial Israels wieder herzustellen. Im Moment sieht es danach aus, als würde die Situation eine Eigendynamik entwickeln. Es werden gegenwärtig israelische Truppen und Panzer an die Grenze zum Gazastreifen verlegt. Dabei weiss man eigentlich, wie es ausgeht: Es werden ganz viele Menschen sterben, die Zerstörungen werden massiv sein, und am Ende ist man kein bisschen weiter. Das haben vorgängige Krieg schon gezeigt. Ich bin eher pessimistisch, dass es in kurzer Zeit zu einer Beruhigung kommt.



Könnten die Palästinenser mit einer dritten Intifada reagieren?

Dass es im Westjordanland zu einem grösseren Flächenbrand kommt, halte ich für unwahrscheinlich. Den Palästinensern fehlt im Moment eine legitimierte Führung, die glaubhaft zu einem Aufstand aufrufen könnte. Allerdings gibt es ein neues Element in den letzten Tagen der Eskalation: die Politisierung israelischer Palästinenser. In den Demonstrationen und Ausschreitungen in Jerusalem haben viele Palästinenser aus Israel teilgenommen. Und die Demonstrationen gab es nicht nur in Jerusalem, sondern auch in anderen arabischen Städten in Israel.

Welche Rolle spielte der deutlich pro-israelische Kurs, den die USA unter Donald Trump in den letzten Jahren verfolgten?

Auf der palästinensischen Seite hat dieser Kurs zumindest einmal für Klarheit gesorgt. Man hat alle Brücken abgebrochen und alle offiziellen Kommunikationskanäle mit der Trump-Administration gekappt. Mit Joe Biden verband man dann zunächst die Hoffnung, sich wieder an einen Tisch setzen zu können. Abbas hatte im Januar ursprünglich Wahlen angekündigt, das war auch als Signal zu verstehen, dass man bereit ist, zu einem konstruktiven Dialog zurückzukehren. Dass sich Biden jetzt mit Volldampf in dem Konflikt engagiert, glaube ich jedoch nicht. Das bringt ihm auch Kritik ein: In Washington ist nicht jeder von seiner «Hands off»-Politik begeistert.

Was kann, soll, muss man tun, um den Konflikt jetzt zu befrieden?

Einerseits müssen die Länder, die starke freundschaftliche Beziehungen mit Israel haben, das Land von seiner Politik der Wiederherstellung des militärischen Abschreckungspotenzials abbringen. Allerdings bin ich nicht gerade optimistisch, dass das gelingen kann. Auf der anderen Seite stellt sich die Hamas als Garant für Ruhe, aber auch Stärke dar. Sie hat jetzt mit den Raketenangriffen ihren Punkt gemacht, für weitere Eskalationen gewappnet zu sein, sendet aber auch Signale, in die andere, in die friedliche Richtung gehen zu können. Diese Schritte müssten unterstützt werden. Und das ist ein Problem, weil sich sehr viele diplomatische Akteure weigern, Kontakte zur Hamas zu unterhalten. Da ist die offizielle Schweiz eine lobenswerte Ausnahme.

Welche Art von Beziehung unterhält die Schweiz zur Hamas?

Die Schweiz und Norwegen halten sich als einzige Länder in Europa nicht an die «No Contact»-Politik. Das EDA hat offene Gesprächskanäle mit Hamas-Exponenten, was nicht als irgendeine Art von politischer Unterstützung zu verstehen ist. Um friedensfördernd und vermittelnd tätig sein zu können, muss man mit den Akteuren vor Ort reden können.

Könnte man also Hoffnungen in die Schweiz setzen, dass eine Lösung des Konflikts gefunden wird?

Das würde ich für diese unmittelbare Eskalationsrunde nicht unbedingt erwarten. Die Schweiz engagiert sich in diesem Konflikt weniger in solchen heissen und eskalierenden Phasen, sondern hat eine längerfristige Perspektive. Alles, was Sicherheit und Militär angeht, wenn zum Beispiel ein Waffenstillstand verhandelt werden soll, ist das eher die Domäne von Ägypten, der Uno oder den USA.