Vom Gejagten zum Jäger Uncle Sam schenkt Afghanistans Taliban tonnenweise Material

Von Philipp Dahm

8.7.2021

Ein Talib posiert mit Kriegsbeute. Die Islamisten veröffentlichen später selbst das Foto zu Propaganda-Zwecken.
Ein Talib posiert mit Kriegsbeute. Die Islamisten veröffentlichen später selbst das Foto zu Propaganda-Zwecken.
Bild:  Ebd.

Das US-Militär verlässt Bagram, ohne es dem neuen Kommandanten zu sagen. Zurück lässt es Material, das nun auch den Taliban in die Hände fällt. Allein im Juni waren es 33 Artillerie-Geschütze und 738 Trucks und Jeeps.

Von Philipp Dahm

Als erst die Briten und dann die Amerikaner vor 20 Jahren den Flughafen von Bagram besetzen, steckt der Einsatz noch in den Kinderschuhen: Von insgesamt nur 4000 US-Soldaten im Land sichern 3000 den Flughafen von Kandahar und 500 den von Bagram.

Doch das ist bloss der Anfang. In den folgenden Jahren wird der Stützpunkt zu seiner eigenen Kleinstadt – mit Läden, Cafés und zuweilen sogar Stau. Die Landebahnen und Kasernen werden ausgebaut, sodass 2009 10'000 Soldaten dort versorgt werden können. Das Gefängnis, das im selben Jahr fertiggestellt wird, hat Platz für bis zu 3000 Feinde.

Das Militärgefängnis Bagram auf einem Foto von 2010: Die Einrichtung wird 2014 der afghanischen Regierung übergeben und firmiert seither unter dem Namen Parwan Detention Facility.
Das Militärgefängnis Bagram auf einem Foto von 2010: Die Einrichtung wird 2014 der afghanischen Regierung übergeben und firmiert seither unter dem Namen Parwan Detention Facility.
KEYSTONE

Auf dem Höhepunkt der Afghanistan-Kampagne sind bis zu 30'000 Soldaten aus aller Nato Länder in Bagram stationiert – eine enorme Aufgabe für die Logistik. Um den Betrieb zu gewährleisten, braucht es nicht nur Kanonen zum Schutz, sondern beispielsweise auch ganz normale Jeeps für die Versorgung.

USA unterrichten neuen Kommandeur nicht vom Abzug

Und heute? Ist das Licht in Bagram aus. Den Stützpunkt nutzt zwar nach wie vor die afghanische Armee, doch die früheren Hausherren haben sich verkrümelt, ohne Lebewohl zu sagen. Nach 20 Jahren haben die letzten US-Soldaten Bagram nachts verlassen und den Strom abgestellt, ohne den neuen lokalen Kommandeur zu informieren, weiss USA Today.

Tonnen von Material lassen Amerikaner und Verbündete dabei zurück, wie Bilder vom ersten Tag zeigen, an dem Bagram unter dem Kommando des afghanischen Generals Mir Asadullah Kohistani steht. Und während Fahrzeuge und Waffen hier in der Hand der Regierungstruppen bleiben, fallen sie anderswo zu Hunderten in die Hand derjenigen, die zuvor gegen sie gekämpft haben.

Die weissen Pick-up-Trucks und Jeeps sind dabei noch das geringste Problem: Von Handfeuerwaffen über Maschinengewehre bis hin zu grossen Geschützen reicht die Liste der Relikte des US-Militärs, die in den Händen der Taliban landen, kaum dass die GIs abgerückt sind.

738 Fahrzeuge für die Taliban – alleine im Juni

Der von zwei Niederländern betriebene Blog Oryx hat etwa nachgezählt, dass das afghanische Militär 3 Flugabwehr-Kanonen, 33 Artillerie-Geschütze und 738 Trucks und Jeeps an die Taliban verloren hat. Und das allein im Juni 2021!

Und die ungewollte Aufrüstung der Taliban ist immer noch im Gang: Der britische Sender Sky News durfte im Juli den Stützpunkt Sultan Khil in der Provinz Wardak eine Autostunde westlich von Kabul besuchen, den die Islamisten nach zwei Tagen Kampf erobert haben – nicht nur ein Erfolg wegen der strategischen Lage, sondern auch wegen des Materials in der Kaserne.

Hell markiert die Provinz Wardak in Zentral-Afghanistan, die eine Autostunde westlich von Kabul liegt und nun von den Taliban kontrolliert wird.
Hell markiert die Provinz Wardak in Zentral-Afghanistan, die eine Autostunde westlich von Kabul liegt und nun von den Taliban kontrolliert wird.
Karte: Google Maps

Stolz zeigen die Taliban entsprechende Container vor: Nach ihren Angaben haben sie 15 Militär-Trucks, 20 Armee-Pick-ups, 30 Humvees, 70 Scharfschützen-Gewehre und 900 weitere Gewehre eingesackt, als sie den Stützpunkt eingenommen haben. Andere Container enthalten Satelliten-Telefone, Computer, Granaten und weitere Munition – markiert mit «Property of US Government».

Ein afghanischer Armee-Pick-up am 5. Juli in Bagram.
Ein afghanischer Armee-Pick-up am 5. Juli in Bagram.
AP

Nackte Angst

Dank des ungewollten Nachschubs durch die Amerikaner machen sich die Taliban weiter daran, in das Machtvakuum vorzustossen, das deren Abzug hinterlässt: Ein Drittel der afghanischen Provinzen soll bereits wieder in der Hand der Extremisten sein, die ihre militärischen Erfolge auf Social Media psychologisch ausschlachten.

Weil die Regierung in Kabul auch den aktuellen militärischen wie medialen Vorstössen nichts entgegenzusetzen zu haben scheint, hat Foreign Policy bereits verkündet, die Taliban schickten sich an, «den verbalen Krieg zu gewinnen». Die Folge: nackte Angst. Eine ganze «Generation von Fachkräften flieht», weiss das «Wall Street Journal». Frauen sind ganz besonders gefährdet.

«Sie werden uns abschlachten», sagt ein afghanischer Übersetzer dem US-Sender CBS. Die Taliban hätten seine Familie bewusst aufgesucht und seinen Vater bei der Flucht erschossen. 60'000 bis 70'000 Menschen will Washington deshalb noch evakuieren.

Russland und China alarmiert

Auch aussenpolitisch kommt durch das Taliban-Comeback einiges in Bewegung: Rund 1000 afghanische Soldaten sind vor den Islamisten ins benachbarte Tadschikistan geflohen. Duschanbe hat daraufhin per Teil-Mobilisierung 20'000 Soldaten aufgeboten, die nach dem Kollaps auf der afghanischen Seite die Grenze stabilisieren sollen.

Humvees der afghanischen Armee am 4. Juli in der Provinz Badachschan im Norden das Landes, die an die Taliban verloren ging. Die Grenzregion zu Tadschikistan soll aber heute angeblich wieder von Regierungstruppen eingenommen worden sein.
Humvees der afghanischen Armee am 4. Juli in der Provinz Badachschan im Norden das Landes, die an die Taliban verloren ging. Die Grenzregion zu Tadschikistan soll aber heute angeblich wieder von Regierungstruppen eingenommen worden sein.
AP

Russland, das in Tadschikistan eine Militärbasis unterhält und keinerlei Interesse daran hat, dass aus dem Süden islamistische Kämpfer eigene muslimische Minderheiten fanatisieren, hat Duschanbe bereits Schützenhilfe versprochen: Gerade erst haben russische Kampfhelikopter Manöver im Gebiet abgehalten, so die Nachrichtenagentur Reuters.

Peking wiederum will nicht, dass Erfolge der Taliban nun der Islamischen Ost-Turkestan-Partei ebenfalls Auftrieb verleihen: Das ist die «Terrorgruppe, die China am meisten fürchtet», ordnet «Asia Times» die Bewegung ein, die Freiheit für Ost-Turkestan alias Xinjiang fordert.



Peking will jegliche Loslösung der Uiguren-Provinz unbedingt verhindern – und soll den Taliban sogar «Frieden gegen Entwicklung» angeboten haben, solange die Afghanen die Muslime in Xinjiang nicht unterstützen.

Doch die Islamisten stellen stattdessen neu erkämpftes Selbstbewusstsein unter Beweis: Alle ausländischen Truppen müssten das Land räumen, fordern sie. So bald wird Afghanistan seinen Ruf, ein Pulverfass zu sein, nicht verlieren.