Syrien Türkei rückt in Syrien vor – Tausende auf der Flucht

tpfi/SDA

10.10.2019

Über der nordsyrischen Stadt Ras al-Ain steig nach türkischen Luftangriffen Rauch auf.
Über der nordsyrischen Stadt Ras al-Ain steig nach türkischen Luftangriffen Rauch auf.
Bild: Keystone/EPA/Sedat Suna

Trotz internationaler Kritik setzt die Türkei ihre Offensive in Syrien fort und verzeichnet Geländegewinne. Mindestens 60'000 Menschen sind bereits geflohen, mehr als 100 Menschen wurden bislang getötet.

Die Türkei hat am zweiten Tag ihrer Offensive gegen die Kurden-Miliz im Nordosten Syriens Geländegewinne und den Tod über 100 Gegnern gemeldet. Mehr als 60'000 Menschen flohen Beobachtern zufolge seit Beginn des Militäreinsatzes aus Ras al-Ain und Darbasija nach Süden

Dem von der Kurden-Miliz YPG angeführten Rebellenbündnis Syrische Demokratische Kräfte (SDF) zufolge kam es am Donnerstag in mehreren Orten im Grenzgebiet zu heftigen Kämpfen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte teilte mit, mindestens 23 SDF-Kämpfer und acht Zivilisten seien getötet worden.

In der türkischen Grenzstadt Akcakale kamen nach Angaben aus Sicherheitskreisen und Spitälern drei Menschen durch Granatenbeschuss aus Syrien ums Leben, darunter ein Kind.

Die türkischen Truppen rückten im Rahmen des «Quelle des Friedens» genannten Einsatzes östlich des Euphrats weiter vor, wie das Verteidigungsministerium in Ankara mitteilte. Die vorgesehenen Zielgebiete seien eingenommen worden.

«Die Operation wird derzeit unter Beteiligung all unserer Einheiten fortgesetzt», sagte Erdogan vor Mitgliedern seiner islamisch-konservativen Partei AKP in Ankara. Der Einsatz gegen die Kurden solle auch zur territorialen Integrität Syriens beitragen, sagte er. «109 Terroristen wurden bislang getötet.»

Als Terroristen bezeichnet die türkische Führung die Angehörigen der Kurden-Miliz YPG, die sie als Ableger der verbotenen Arbeiterpartei PKK sieht. Die Türkei befürchtet ein Erstarken der Kurden jenseits ihrer Südgrenze und damit auch der auf ihrem eigenen Territorium nach Autonomie strebenden Kurden.

«Dolchstoss» der USA für Kurden

Die Regierung in Ankara will daher auf syrischem Gebiet entlang der Landesgrenze eine 30 Kilometer tiefe sogenannte Sicherheitszone errichten und verlangt den Abzug der Kurden-Miliz aus dem Gebiet. Dort sollen dann bis zu zwei Millionen in die Türkei geflohene meist arabische Syrer angesiedelt werden.

Am Mittwochnachmittag hatte das türkische Militär trotz internationaler Kritik seine seit längerem angedrohte Offensive mit Luftangriffen begonnen. Am Abend rückten Bodentruppen auf syrisches Territorium vor.

US-Präsident Donald Trump hatte dem Nato-Partner dafür mit einem Abzug amerikanischer Truppen aus dem Nordosten Syriens den Weg geebnet. Das Rebellenbündnis SDF war im erbitterten Kampf gegen die radikal-islamische IS-Miliz in Syrien für die USA ein wichtiger Verbündeter und spricht nun von einem «Dolchstoss» der USA.

Trump bekräftigte am Donnerstag, die Türkei müsse mit Wirtschaftssanktionen rechnen, sollte sie sich bei ihrem Einsatz nicht «an die Regeln» halten.

Gefahr nach Beschuss von IS-Gefangenenlager

Die kurdische Regionalverwaltung in Syrien warf der Türkei vor, auch ein IS-Gefangenenlager beschossen zu haben. Damit riskiere die Führung in Ankara den Ausbruch gefährlicher Extremisten und nehme «eine Katastrophe» in Kauf.

Je heftiger die Kämpfe mit der Türkei würden, umso mehr Wachposten würden abgezogen, sagte Badran Dschia Kurd von der kurdischen Verwaltung. «Das birgt eine immense Gefahr.» In den Lagern werden Tausende IS-Kämpfer aus 60 Ländern und Zehntausende ihrer Angehörigen festgehalten.

Trump verteidigte den Abzug der US-Soldaten gegen Kritik auch aus der eignen republikanischen Partei. Die Gefahr von entkommenen IS-Kämpfern für die USA spielte er herunter. «Nun, sie werden nach Europa fliehen. Dort wollen sie hin.»

Erdogan droht EU

Russland, das im Bürgerkrieg an der Seite des syrischen Präsidenten Baschar al Assad steht, forderte die Türkei zum Dialog mit der Führung in Damaskus auf. Die syrische Regierung hatte gedroht, den türkischen Einmarsch nicht einfach hinzunehmen.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kritisierte den Vormarsch der Türkei und warnte vor einer «ethnischen Säuberung der Kurden». Die EU, Deutschland und Grossbritannien forderten einen sofortigen Stopp der Offensive.

Aussenminister Ignazio Cassis kritisierte Militäroperation mit ungewöhnlich deutlichen Worten: Es handle sich um eine krasse Verletzung des internationalen Völkerrechts, sagte Cassis am Donnerstag gegenüber Fernsehen SRF. Eine militärische Invasion der Türkei in Syrien, ohne dass die Türkei bedroht wurde, verstosse gegen die Prinzipien der Uno.

Deutschland forderte die Türkei auf, die Militäroffensive in Syrien einzustellen. Deutschland verurteile diese Offensive «auf schärfstmögliche Weise», sagte der stellvertretende deutsche Uno-Botschafter Jürgen Schulz vor einer Sitzung des Uno-Sicherheitsrats in New York.

«Wir glauben, dass diese Offensive das Risiko einer weiteren Destabilisierung der gesamten Region und eines Wiedererstarkens des Islamischen Staats mit sich bringt.» Die türkische Offensive drohe eine weitere humanitäre Katastrophe und weitere Flüchtlingsbewegungen zu entfesseln. Ähnlich äusserte sich der französische Präsident Emmanuel Macron.

Erdogan warf der EU Unehrlichkeit vor. Sollten die Europäer den Armee-Einsatz als Besatzung brandmarken, werde die Türkei den Weg für Flüchtlinge nach Europa wieder frei machen, sagte er. «Wir werden die Tore öffnen und 3,6 Millionen Flüchtlinge auf den Weg schicken.»

Europa sei nicht ehrlich und habe noch nie die Wahrheit gesagt. Die EU-Kommission bekräftigte ihre Kritik und forderte die Türkei zur Erfüllung ihrer Pflichten als Beitrittskandidat auf.

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