Viele KonsequenzenSo heftig sind die Folgen der Regierungskrise für das Volk
Von Theresa Münch und Verena Schmitt-Roschmann, dpa
8.11.2024 - 13:03
Wie geht es nach dem Bruch der Ampel weiter?
STORY: Die erste Ampel-Koalition auf Bundesebene in der Geschichte Deutschlands ist passé. Am Tag nach dem Bruch des Bündnisses aus SPD, Grünen und FDP formierte sich die rot-grüne Minderheitsregierung in Berlin. Als neuer Finanzminister legte der SPD-Staatssekretär und frühere Goldman-Sachs-Investmentbanker Jörg Kukies im Bundestag seinen Amtseid ab. Verkehrsminister Volker Wissing übernahm das Justizressort. Den Posten des Verkehrsministers behält er trotz des Rückzugs der anderen FDP-Minister, Wissing will stattdessen bei den Liberalen austreten. Das Ministerium für Bildung und Forschung übernimmt Bundesagrarminister Cem Özdemir zusätzlich zu seinen bisherigen Aufgaben. Nach drei schwierigen Jahren mit dem Krieg in der Ukraine, Rekordinflation und Rezession war die Ampel-Regierung am Mittwochabend zerbrochen – knapp ein Jahr vor der regulären Wahl. Eine besondere Rolle kommt nun Oppositionsführer Friedrich Merz zu. Der CDU-Chef traf sich am Mittag mit Bundeskanzler Olaf Scholz, um eine Zusammenarbeit im Parlament auszuloten, allerdings ohne greifbares Ergebnis. Merz wie auch die FDP und die AfD fordern schnellere Neuwahlen, als von Scholz geplant. Alice Weidel, AfD-Vorsitzende «Die Vertrauensfrage des Kanzlers erst am 15. Januar zu stellen, ist unverantwortlich. Man kann mit einer Rumpfregierung, aus einer Regierung, die niemand mehr wollte, nicht weitermachen.» // «Und dementsprechend fordert die AfD-Fraktion, die Vertrauensfrage bereits nächste Woche zu stellen. Das ist er diesem Land schuldig, dass er möglichst schnell abtritt.» Zu dem Schritt zwingen könne man einen Kanzler allerdings nicht, sagt der Politologe Stefan Marschall. «Und es spricht vieles dafür, dass er das im Januar erst machen wird, weil er die Zeit bis dahin nutzen möchte, noch als Kanzler einer Minderheitsregierung zumindest das zu tun, was möglich ist. Und er wird versuchen, weiter noch Impulse zu setzen, zu zeigen: 'Ich könnte auch Kanzler sein, weiterhin', mit einer rot grünen Regierung in diesem Fall. Er wird keine Zustimmung im Parlament finden, aber er wird trotzdem weiter aktiv sein können und wird das nutzen, diese Zeit, um sich auch noch mal in der Politik selbst noch mal beliebter zu machen, bei den Menschen beliebter zu machen und zu zeigen: 'Ich könnte Kanzler'. Von seiner SPD-Fraktion wurde der Kanzler am Mittwochabend für seine Entscheidung, FDP-Finanzminister Christian Lindner zu entlassen und Neuwahlen einzuleiten, mit stehenden Ovationen gefeiert. Dabei birgt der Schritt in Zeiten internationaler Unsicherheiten laut Marschall auch Risiken. «Ich denke, dass es wirklich auch problematisch ist, wenn ein wichtiges Land wie Deutschland in einer solch schwierigen Phase, die wir jetzt vor uns sehen, nicht mehr wirklich funktions- und handlungsfähig ist. Und das ist der Fall in einer solchen Situation, wenn eine Regierung quasi im Abgang ist und die neue noch nicht feststeht. Also, Deutschland wird eine Zeit lang gelähmt sein politisch, und das in einer Phase, in der ganz wichtige Antworten und Vorbereitungen für die Zeit der Regentschaft von Trump zu finden sind.» Auch beim Hauptstreitthema der Ampel droht eine Hängepartie. Dass der Haushalt für 2025 noch in diesem Jahr beschlossen wird, gilt als unwahrscheinlich. Der Nachtragshaushalt 2024 muss noch in diesem Jahr durchs Parlament. Ob die rot-grüne Minderheitsregierung dafür die nötigen Stimmen zusammenbekommt, ist unklar.
08.11.2024
Politik ist manchmal abstrakt und weit weg. Was schert es die Deutschen, wenn die Parteien nicht miteinander können? Die Antwort ist: ziemlich viel. Die Folgen der Krise könnten riesig sein.
08.11.2024, 13:03
08.11.2024, 13:29
dpa
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Die Regierung von Kanzler Olaf Scholz ist gescheitert: Wann es Neuwahlen geben wird, steht noch nicht fest.
Der Haushalt 2025 noch nicht verabschiedet: Geht es nicht voran, werden im kommenden Jahr nur gesetzlich verankerte Zahlungen überwiesen.
Wer beim Staat nur angestellt ist, bekommt keinen Lohn mehr. Soziale Projekte und Infrastruktur-Bauvorhaben werden vorerst auf Eis gelegt.
Für 2025 geplante Steuererleichterungen und Zuschläge für Kinder werden wohl zurückgestellt.
Die politische Unsicherheit hat psychologisch negative Folgen für die deutsche Wirtschaft.
Ein Experte mahnt: «Je kürzer die orientierungslose Zeit ist, desto besser.»
Ausgerechnet jetzt, mitten in einer Wirtschaftskrise, mitten im Krieg in der Ukraine, mitten in grosser Verunsicherung nach den Wahlen in den Vereinigten Staaten – ausgerechnet jetzt geht auch noch die Ampel-Koalition in Berlin kaputt.
Zwar sprachen sich in einer Umfrage für den ARD-Deutschlandtrend gestern 65 Prozent für eine möglichst schnelle Neuwahl des Bundestags aus. Auch im ZDF-Politbarometer sind 54 Prozent für eine frühere Wahl, als Kanzler Olaf Scholz (SPD) es plant. Trotzdem hat das politische Durcheinander einige Folgen, die für fast jeden im Land spürbar werden.
Problem Bundeshaushalt
Der Bruch der Ampel bedeutet, dass die Rest-Regierung von SPD und Grünen keine eigene Mehrheit mehr im Bundestag hat – auch nicht für die Verabschiedung des Bundeshaushalts. Was technisch klingt, betrifft Millionen Menschen. Schon in diesem Jahr könnte es Haushaltssperren geben, wenn der Bundestag der Regierung nicht erlaubt, zusätzliche Schulden aufzunehmen.
Dann könnte es zum Beispiel dazu kommen, dass Zuschüsse für den Hausbau nicht mehr fliessen. Wenn die Regierung den Etat für 2025 nicht durchbringt, beginnt das Jahr mit vorläufiger Haushaltsführung. Dann werden zwar Pflichtleistungen wie das Bürgergeld weiter gezahlt. Was nicht verpflichtend, nicht gesetzlich verankert oder schon begonnen ist, wird hingegen womöglich auf Eis gelegt.
Dann könnte zum Beispiel das Deutschland-Ticket auslaufen. Oder es platzen öffentliche Bauprojekte. Die Linken-Politikerin Gesine Lötzsch erwähnte im ZDF 5000 Brücken, die saniert werden müssten: «Wir können die Dinge nicht auf die lange Bank schieben.» Es geht aber auch wieder um Zuschüsse für altersgerechtes Wohnen, klimafreundliches Bauen und anderes.
Tausende Angestellte mit Projektverträgen müssen um eine Verlängerung zum Jahreswechsel bangen. Gemeint sind zum Beispiel soziale Projekte wie ein Lesben- und Schwulenverband oder der Friedensdienst Aktion Sühnezeichen, aber auch Vereine, die sich um die Stärkung der Demokratie kümmern. Sie stehen oft ganz vorn auf der Streichliste. Konkret heisst das: Jobs fallen weg.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, meint: «Die vordringlichste Aufgabe in den kommenden Monaten wird die Verabschiedung des Bundeshaushalts 2025 sein, sonst wird der Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft noch grösser.»
Kalte Progression und Kindergeld
Der nun Ex-Finanzminister Christian Lindner (FDP) hatte eigentlich eine milliardenschwere Entlastung geplant – nicht nur für Unternehmen, sondern vor allem auch für ganz normale Bürger. Jetzt ist völlig offen, ob das wirklich kommt, denn die Rest-Regierung bräuchte dafür die Hilfe der Union.
Ab Januar sollte das Kindergeld steigen und auch der Kinder-Sofortzuschlag für Familien mit geringem Einkommen. Gut möglich, dass das nun erst mal nicht klappt. Ausserdem droht eine höhere Steuerbelastung. Denn die zerbrochene Ampel wollte eigentlich sicherstellen, dass Steuerzahler nicht noch mehr unter der hohen Inflation leiden.
Jetzt könnte passieren, dass die sogenannte Kalte Progression nicht aufgefangen wird – dass Bürger also durch den ansteigenden Steuertarif auch dann mehr an den Fiskus zahlen müssen, wenn ihre Gehaltserhöhung nur die Inflation ausgleicht.
Fratzscher meint, darauf solle sich die Regierung jetzt erst mal nicht konzentrieren. «Es gibt dringendere Notwendigkeiten, die der deutschen Wirtschaft besser helfen würden», sagte er. Für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet das aber: Weniger Netto vom Brutto.
Die Psychologie: Das grosse Unbehagen
Nicht sofort messbar, aber für fast alle spürbar: Die Menschen in Deutschland reagieren auf Unsicherheiten, ob nun politisch oder wirtschaftlich.
«Die Wirtschaft und die Bürger wollen eine gewisse Stabilität, sie wollen wissen, was auf sie zukommt», sagt der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer. «Wir haben grosse Ansprüche und Erwartungen an den Staat. Das spielt bei uns eine grössere Rolle als in anderen Ländern wie den USA.»
Sein Fachkollege Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen meinte im ZDF sogar: «Wir sind ja Stabilitätsfanatiker.» Er bezieht dies darauf, dass das Grundgesetz eigentlich darauf ausgelegt ist, politische Hängepartien zu vermeiden.
Auch die deutschen Sozialsysteme sind ja so ausgefeilt, weil ein grosses Bedürfnis nach Absicherung herrscht. Phasen der Unsicherheit können auch dazu führen, dass Menschen Anschaffungen hinauszögern und ihr Geld zusammenhalten.
Wirtschaft: Eine Hängepartie kann schaden
Was Privatleute umtreibt, trifft Unternehmen umso mehr. «Das Ende der Ampel-Regierung wird die Unsicherheit und die politische Lähmung in den kommenden Monaten erhöhen», erwartet DIW-Chef Fratzscher. «Dies dürfte weiteren wirtschaftlichen Schaden anrichten und die deutsche Wirtschaft zu einem Zeitpunkt schwächen, an dem sie bereits sehr schwach und angeschlagen ist.»
Fratzscher ist Befürworter einer «expansiven Fiskalpolitik» – der Staat soll in Phasen der Krise oder Rezession mit zusätzlichen Investitionen die Konjunktur beleben. Was schwer wird, wenn vorerst kein Haushalt zustande kommt. Der Politologe Vorländer verweist zugleich auf das Bedürfnis nach Planbarkeit. Geht es weiter in Richtung Klimaschutz oder bleibt man länger bei Kohle? Setzt man weiter auf E-Autos oder fahren auf deutschen Strassen länger Diesel?
«Die Ampel hatte eine grosse Transformation begonnen, nur passten die unterschiedlichen konzeptionellen Ansätze eben nicht zusammen», sagt der Dresdner Wissenschaftler. «Aber die Politik hatte eine Richtung vorgegeben, und das ist es, was jetzt fehlt. Für Branchen wie die Automobilindustrie kann das existenziell sein.»
Wie geht es politisch weiter?
Die Regierungskrise hinterlässt bei vielen grundsätzliche Zweifel. Wird Politik nach einer Neuwahl wirklich wieder ruhiger und berechenbarer? «Wir haben viele Krisen, die uns gleichzeitig belasten und verunsichern», sagt Vorländer. «Da brauchen wir eigentlich eine Richtungsanzeige. Andernfalls herrscht Angst, dass die Richtung bald wieder geändert wird.» Der Politikwissenschaftler ist sich sicher: «Je kürzer die orientierungslose Zeit ist, desto besser.»
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