Zwischen Trauma und Neubeginn20 Jahre nach tödlichem Tsunami leben Thailänder mit der Angst
dmu
26.12.2024 - 18:58
Zerstörte Orte sind aufgebaut, Touristen zurück. 20 Jahre nach dem verheerenden Tsunami im Indischen Ozean sieht alles gut aus an der mitbetroffenen thailändischen Küste – jedenfalls auf den ersten Blick.
DPA, dmu
26.12.2024, 18:58
26.12.2024, 19:07
dpa
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Vor 20 Jahren traf ein verheerender Tsunami weite Teile Südostasiens.
Die damals 20-jährige Thailänderin Neungduangjai Sritrakarn erinnert sich an die Katastrophe.
Heute lebt sie wieder am Meer – obwohl die Erinnerungen noch immer allgegenwärtig sind.
Die damals 20-jährige Neungduangjai Sritrakarn schlief an jenem Morgen noch fest, im Haus ihrer Familie an der Andamanensee im südlichen Thailand, als ihre Mutter etwas Ungewöhnliches bemerkte. Sie weckte ihre Tochter und sagte ihr, dass sie sofort weg müssten, so schnell wie möglich.
Es war der 26. Dezember 2004, der Tag, an dem ein tödlicher Tsunami im Indischen Ozean Süd- und Südostasien traf, nach einem Erdbeben der Stärke 9,1 vor der Westküste der indonesischen Insel Sumatra. Ein Tag, der sich für immer im Gedächtnis der damaligen jungen Studentin und anderer Überlebender eingebrannt hat. Es war eine der schlimmsten Naturkatastrophen in der modernen Geschichte.
Neungduangjais Mutter hatte auf dem Meer ein merkwürdiges Muster von Schaumkronen gesehen, just, als ein von einer Fischfang-Tour zurückgekehrter Verwandter zu ihnen kam, um sie zu warnen. Sie schnappten sich wichtige Familiendokumente und schwangen sich auf Motorräder – Neungduangjai, ihre Eltern, ihr Bruder und ihre Schwester. Binnen Minuten rasten sie davon, versuchten, so weit wie möglich von ihrem Dorf Ban Nam Khem wegzukommen.
Menschen gedenken Opfern der Tsunami-Katastrophe vor 20 Jahren
Weihnachten 2004 hatten meterhohe Tsunami-Flutwellen für Tod und Zerstörung rund um den indischen Ozean gesorgt – ausgelöst von einem gewaltigen Erdbeben vor der Küste der indonesischen Insel Sumatra.
26.12.2024
Tsunami fordert 230'000 Todesopfer
Als Neungduangjai über ihre Schulter zurück blickte, sah sie in der Ferne eine anschwellende Wasserwand – höher als ihr Haus – auf die Küste zu rollen. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Die Familie war ungefähr drei Kilometer entfernt, als die Wassermassen auf die Küste der Provinz Phang Nga prallten und sie dann einholten, von ihren Motorrädern warfen. Das Wasser war dunkel, hatte alle möglichen Gegenstände – natürliche und von Menschenhand geschaffene – mit sich gerissen. Neungduangjai stand auf, aber konnte sich in den vorwärts drängenden Fluten kaum auf den Beinen halten. Das Wasser reichte fast an ihre Knie.
Sie wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass der Tsunami ein Dutzend Länder getroffen hatte, ungefähr 230'000 Tote zurückliess, etwa ein Drittel davon in Indonesien. Rund 1,7 Millionen Menschen wurden zu Vertriebenen, die meisten von ihnen in den am schlimmsten betroffenen Ländern: Indonesien, Sri Lanka, Indien und Thailand. An der thailändischen Andamanenküste kamen nach Regierungsangaben mindestens 5400 Menschen ums Leben, und etwa 3000 sind bis heute vermisst.
Der Geruch des Todes
Die Garnelenzucht-Farm, auf der Neungduangjais Familie gearbeitet und gewohnt hatte, war vernichtet. An ihrer Stelle befindet sich heute ein geschäftiger Restaurant- und Barbetrieb, die Früchte von Neungduangjais Wiederaufbau-Anstrengungen. Von der Veranda hat man einen schönen Ausblick auf das Meer – den es nur deshalb gibt, wie sie sagt, weil der Tsunami Teile der Küste zerstörte. In Phang Nga blüht wieder das Leben, die Touristen sind zurück – nach aussen hin ist alles gut.
Neungduangjai, die damals in Bangkok studierte und während Ferien zum Jahreswechsel nach Hause gekommen war, sagt, dass ihre nächsten Familienangehörigen überlebt hätten, aber sie habe fünf Verwandte verloren – so auch ihre Grosseltern. Einer ihrer Onkel wurde nie gefunden. Sie blieb nach dem Tsunami eine Woche bei Angehörigen in der nahe gelegenen Provinz Ranong, dann kehrte sie zurück.
Sie erinnert sich an den Geruch des Todes, als wäre es gestern passiert, und daran, dass nichts mehr an seinem ursprünglichen Platz zu sein schien. «Da waren überall Leichen», schildert sie. «Als ich in das Dorf zurückkehrte, konnte ich kein einziges Ding wiedererkennen. Alles war anders.»
Trauma ist noch gegenwärtig
Touristen mögen es nicht bemerken, aber Erinnerungen an die Tragödie gibt es in Phang Nga auch heute noch zuhauf – Zeichen, die die Evakuierungsroute markieren, Tsunami-Schutzräume nahe Strandgebieten, Denkmäler und Museen, die Trümmer ausstellen und anhand von Fotos die Geschichte jenen Tages erzählen.
Sanya Kongma, Assistent des Dorfoberhauptes von Ban Nam Khem, sagt, dass Wiederaufbau und Entwicklung es weit gebracht hätten und die Lebensqualität in diesem Ort im Vergleich zur Zeit vor 20 Jahren gut sei. Aber die Erinnerungen und das Trauma des Erlebten sind nach seinen Worten weiter gegenwärtig – und die Furcht ist nie weit entfernt. «Sogar jetzt...Wenn es eine Bekanntmachung der Regierung im Fernsehen gibt, oder was auch immer, dass es ein Erdbeben in Sumatra gegeben hat, bekommt jeder Angst.»
Ein Mal im Jahr heulen die Sirenen, im Zuge einer Evakuierungsübung. Aber was dazu gedacht ist, Einwohnern ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, das Wissen, dass man jetzt viel besser vorbereitet ist, kann bei manchen Überlebenden den Schrecken wieder aufleben lassen.
«Ich habe weiter Angst»
Somneuk Chuaykerd hat einen ihrer kleinen Söhne durch den Tsunami verloren, während sie mit ihrem Mann zum Fischen auf See war. Die 50-Jährige lebt immer noch am selben Ort, das Meer grenzt praktisch an ihren Garten hinter dem Haus. In den Evakuierungsübungen hat sie gelernt, immer eine Tragetasche für den Notfall mit allen wichtigen Dokumenten gepackt zu haben. Sie hat sie in ihrem Schlafzimmer – wie auch ein Foto von dem kleinen Jungen, den sie verlor.
Aber die Sirene lässt die jedes Mal vor Furcht erstarren, ihr Herz beginnt zu rasen. Sie sei in diesem Moment hilflos, schildert sie. «Es ist so angsterregend.» Aber sie denkt nicht daran, von diesem Ort wegzuziehen. «Ich lebe am Meer. Dies ist mein Leben. Es gibt keinen anderen Ort, an den ich gehen könnte», sagt sie.
Neungduangjai ihrerseits hat nach dem Tsunami jahrelang Panikattacken erlitten, wann immer sie auf das Meer blickte. Ein tosender Lärm von Wellen verfolgte sie im Schlaf. Dennoch entschloss sie sich nach ihrem Studium zur Rückkehr, sich ein neues Leben direkt am Meer aufzubauen, dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. «Ich habe weiter Angst», sagt sie, «aber ich muss damit leben, denn es ist mein Zuhause».
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