Warnung per Telefon«Sie haben zwei Stunden. Dann müssen wir Sie bombardieren»
smi
12.11.2023
Ein palästinensischer Zahnarzt im Gaza-Streifen wird vom israelischen Geheimdienst zum Evakuierungshelfer gemacht. Eine Rolle, die er nie wollte – und hervorragend löst.
smi
12.11.2023, 00:00
smi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Ein palästinensischer Zahnarzt erhält einen Anruf. «Wir müssen Sie bombardieren. Sie haben zwei Stunden, um die Gebäude zu evakuieren.»
Plötzlich findet sich der 40-Jährige Vater in einer Rolle, die er nie wollte.
Das Viertel in einem Vorort von Gaza-Stadt, in dem der Zahnarzt seine Praxis aufgebaut hat, gibt es 24 Stunden später nicht mehr.
Al-Zahra im Norden des Gaza-Streifens bleibt bis am 19. Oktober von israelischen Bomben verschont. Zu jenem Zeitpunkt stehen andere Teile des Palästinensergebiets seit 12 Tagen unter Dauerbeschuss.
Um 6.30 Uhr klingelt das Telefon von Mahmoud, einem Zahnarzt und Vater von fünf Kindern in diesem Vorort von Gaza-Stadt. Er sei vom israelischen Geheimdienst, sagt eine Stimme am Telefon. Sie spricht Mahmoud mit seinem vollen Namen und in perfektem Arabisch an.
«Wir werden die drei Hochhäuser bombardieren und wir wollen, dass Sie sie evakuieren», weist die Stimme Mahmoud an. Von einer Sekunde auf die andere ist der 40-Jährige verantwortlich für hunderte Menschen, die in den drei Hochhäusern wohnen.
Ein Warnschuss als Echtheitsbeweis
Mahmoud beginnt umherzurennen und die Menschen aus ihren Wohnungen zu beordern. Er habe geschrieben, bis ihm die Kehle wehgetan habe. Das Telefongespräch mit dem Mann vom Geheimdienst behält er permanent offen.
Einige hätten ihn gewarnt, dass der Alarm falsch sein könnte, erzählt er später. Der Zahnarzt fordert deshalb seinen Gesprächspartner auf, einen Warnschuss abzugeben, um zu sehen, ob er wirklich mit der Truppe in Verbindung steht, die die Raketen abfeuert.
Wenig später schlägt ein Geschoss in einem der Wohngebäude ein. Mahmoud bittet um einen weiteren Warnschuss, sobald die Bombardierung beginnt.
Der Unbekannte am Telefon sagt, sie wollten nicht, dass jemand getötet werde. Er gebe Mahmoud die Zeit, die er brauche, um die Gebäude zu evakuieren. So beschreibt der Zahnarzt die Situation der BBC. Diese hat die Geschichte mit Augenzeugenberichten, Luftbildern und Social-Media-Posts aus der fraglichen Zeit verifiziert.
«Warum Bombardieren Sie uns?» «Wir sehen Dinge, die Sie nicht sehen.»
Während Mahmoud weiter die Bewohner der Gebäude aus ihren Wohnungen holt – einige im Pyjama, andere in ihren Gebetskleidern – versucht er immer wieder, seinen Gesprächspartner dazu zu bringen, von dem Angriff abzusehen. «Warum bombardieren Sie uns?» habe er gefragt. Die Antwort des Agenten: «Wir sehen Dinge, die Sie nicht sehen.» Er führe im Übrigen nur Befehle aus. «Wichtigere Leute als Du und ich stehen dahinter.»
Er sagt auch nicht «Wir bombardieren Sie», sondern «Wir müssen Sie bombardieren». Nachdem der Zahnarzt die Gebäude geräumt hat, beginnt der Beschuss. Zuerst treffen die Raketen nur eines von drei Hochhäusern. Das sei das Gebäude, das sie zerstören würden, tönt es aus Mahmouds Telefon. Dann werden alle drei Gebäude beschossen.
Als die drei Hochhäuser zerstört sind, sagt der Mann vom Geheimdienst zu Mahmoud: «Wir sind fertig. Sie können zurückgehen.» Bilder zeigen, dass am Tag danach ganze Strassenzüge von Al-Zahra in Schutt und Asche liegen.
Der Horror ist nicht vorbei
Am Abend dieses aufreibenden Tages, nach dem Abendgebet, sieht Mahmoud einen verpassten Anruf von einer unbekannten Nummer. Er habe sofort gewussst, was das bedeute: eine weitere Bombardierung und eine weitere Evakuierung.
Nun stellt sich der Mann mit seinem Vornamen vor: Daoud. Er weiss viel über Mahmoud, kennt den Namen seines Sohnes. Er versucht, Mahmoud zu erklären, weshalb sie sein Viertel bombardieren müssten. Ob er gesehen habe, wie die Hamas Kinder mit Messer abgeschlachtet hätte. «Unsere Religion verbietet das», hält der Zahnarzt dagegen und argumentiert, Israel übe Kollektivbestrafung aus.
In der kommenden Nacht würden weitere Gebäude in Al-Zahra bombardiert, kündet der Geheimdienst-Mitarbeiter an. Er werde weitere Gebäude evakuieren müssen.
Inzwischen ist es dunkel, der Strom ausgefallen. Die Menschen leuchten mit ihren Mobiltelefonen und wissen nicht, wo sie sich in Sicherheit bringen können.
Mahmoud versucht, so viel Zeit herauszuholen, wie er kann, indem er mit dem Mann spricht, der sich als Daoud ausgibt. Dann werden drei Gebäude bombardiert, dann nochmals drei. «Das war's», sagt der Mann am Telefon.
Wenig später berichtet er von einem neuen Befehl. Sie müssten alle Häuser auf der Ostseite der Strasse bombardieren. Mahmoud rennt wieder von Haus zu Haus, schreit, dass die Bewohner sofort wegmüssten.
«Du kannst in jeder Sekunde sterben»
Als er wieder einmal um mehr Zeit bittet, sagt der Geheimdienstmann: «Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen und geben Sie uns die Erlaubnis zu bombardieren, wenn Sie so weit sind.» «Nein, ich gebe Ihnen keine Erlaubnis zu bombardieren. Ich will nicht, dass Sie irgendetwas bombardieren. Ich will die Häuser evakuieren, damit die Menschen sicher sind. Sagen Sie mir nicht, Sie brauchen meine Erlaubnis.»
So geht es weiter. Gebäude um Gebäude fällt, der Mann am Telefon sagt Mahmoud, welches als Nächstes an der Reihe ist. Als Mahmouds Akku zur Neige geht, ruft der Agent einen Mann an, der in seiner Nähe steht und verlangt nach Mahmoud.
UN-Menschenrechtschef: Israels Angriffe auf Gaza unverhältnismässig
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, ruft Israel dazu auf, die Angriffe mit besonders explosiven Waffen auf dicht besiedelte Gegenden im Gazastreifen umgehend zu stoppen. «In Anbetracht der vorhersehbar hohen Zahl ziviler Opfer und grossen Zerstörung ziviler Objekte haben wir ernsthafte Bedenken, dass es sich um unverhältnismässige Angriffe handelt, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen», sagt Türk am Freitag in Jordanien.
10.11.2023
Während der ganzen Zeit achtet Mahmoud darauf, dass er sich nicht in der Nähe seiner Familie aufhält, weil er denkt, sein Kontakt zum israelischen Geheimdienst könnte ihn zum Ziel machen.
Am nächsten Tag stellt Mahmoud fest, dass der Wohnblock, in dem er wohnt, noch steht, aber stark beschädigt ist. Das Quartier, in dem er während der letzten 15 Jahre seine Zahnarztpraxis aufgebaut hat, gibt es nicht mehr. Er denke nicht an den materiellen Verlust, er wolle nur überleben. Deshalb ist er mit seiner Familie in einen anderen Teil des Gaza-Streifens gezogen. «Du kannst in jeder Sekunde sterben, wir denken an nichts anderes mehr.»